E2

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"Eure heutige Übungsmission wird im Wald stattfinden!" Schreit Offizier Wintel die übrigen Soldaten-einschließlich mir- an. Mein Herz macht einem kurzen Sprung. Bekanntes Terrain. Schließlich lebe ich bereits mein ganzes Leben dort.
"Ihr werdet dort auf den Feind treffen und mit Hilfe von falschen Bomben eliminieren!" Erklärt er uns knapp.
"Folgt mir!" Ruft er und geht voraus, ohne darauf zu achten, ob alle mitkommen. Er führt uns zu einem Raum mit schwerer Metalltür. Er holt einen großen Schlüsselbund hervor und wählt auf Anhieb den Richtigen, um die Tür zu öffnen.
"Dies ist der Raum, in dem wir die Bomben aufbewahren! Ihr habt hier keinen Zutritt!" Schreit Winston.
"Jawohl!" Schreien wir zurück in stellen uns in eine Reihe an der Wand mit Blickrichtung zur Tür auf, in welcher der Offizier verschwindet. Als er wiederkommt, hält er einen großen Karton in den Händen.
"Diese Bomben und Granaten waren vorerst nur als Attrappe gedacht, doch falls ihr wirklich im Wald angegriffen werden solltet, solltet ihr euch schützen können . Wir schicken euch  nicht unbewaffnet raus. Diese" Er zeigt mit der freien Hand auf den Karton. "Gehen hoch, wenn ihr den Zünder zieht. Nur ist der Effekt nicht so hoch, wie bei echten Bomben oder Granaten!" Er schaut jeden von uns prüfend an. "Zeigt mir, dass ihr eurer Mission würdig seid!" Er gibt einem der Soldaten den Karton.
"Ihr habt exakt 5 Minuten, um für jeden von euch 3 auszuwählen und euch bereit zu machen." Er dreht das Zahlenrad seiner Uhr und geht.
So, wie wir in der Reihe stehen, gehen wir nacheinander zum Karton und knirschen ungeduldig mit den Zähnen, wenn einer zu lange braucht. Jeder von uns hat Angst zu spät zu kommen und als nächster zum Zaun zu rennen. Doch ich lasse alle an mir vorbeigehen, bis ich als Letzter übrig bleibe. Auf den Fluren gibt es keine Kameras. Ich lege meinen Waffengürtel an und werfe einen Blick auf den nun nur noch halb vollen Karton. Schneller als die anderen treffe ich meine Entscheidung. Eine  Rauchgranate, eine normale Granate, die hochgeht, sobald sie den Boden berührt und eine Betäubungsgranate. Ich lasse, mir des Risikos bewusst, eine weitere Rauchgranate in meinem Waffengürtel verschwinden. Dann nehme ich den Karton und trage ihn zum vereinbarten Treffpunkt. Dort nimmt Offizier Wintel mir die Kiste ab und verstaut sie im Camorover. Dann öffnet er die hintere Klappe und ich klettere als erstes auf die große Tragfläche. Einer nach dem anderen folgt mir, bis wir alle gequetscht sitzen. Der letzte schließt die Klappe wieder und der Camorover fährt los. Offizier Wintel bleibt zurück.
Manche der Soldaten texten zwischen ihren Virreals, ich jedoch bleibe ganz allein in mir selbst. Seelisch  bereite ich mich auf die Übung vor.
"Hey, Booth, schon aufgeregt?" Wendet sich der Soldat Penber in Gedanken an mich.
"Nein, Penber. Ich bin nie aufgeregt." Erwidere ich ehrlich. "Würde es dir was ausmachen, aus meinem Kopf zu verschwinden?" Frage ich ihn laut und durchbohre ihn mit einem eisernen Blick. Augenblick unterbricht er die Verbindung unserer Implantate.
"Entschuldigung, Booth." Murmelt er und wendet sich wieder von mir ab. Ich lächle in mich hinein. Ich lasse nie jemanden in meinen Kopf hinein. Noch nicht einmal Angess. Erst Recht nicht sie. Denn, wie ich sie kenne, würde sie sich in alle meine wichtigen Informationen hacken, deshalb sperre ich meinen Chip, wenn ich in ihrer Nähe bin.
Plötzlich hält der Camorover an und es knackt kurz in meinem Kopf. Es dauert einen Moment und einige Knacken mehr, bis wir alle miteinander verbunden sind.
"Soldaten, können Sie mich hören?!" Schreit Wintel in all unseren Köpfen.
"Jawohl!" schreien wir ihn durch die Verbindung unserer Virreals zurück an. Ich spüre schon, wie sich Kopfschmerzen anbahnen. Wie ich dieses Geschreie hasse. Und unser Jawohl-Shitz, erst recht.
"Öffnet euren Sichtschutz herunter und schaltet den Adlerblick frei!" Schreit er und synchron, wie Maschinen tun wir, was er sagt.
"Jawohl!" Ertönen nach und nach unsere Gedankenrufe. Ich spüre, ein weiteres schmerzhaftes Knacken und erkenne, dass Wintel einen Einzelchat mit mir geöffnet hat.
"Du übernimmst C3!" Schreit er mich an und ich bilde mir ein, den Schmerz in meinem Ohr spüren zu können.
"Jawohl, Offizier Wintel!" Gebe ich ihm zu verstehen, dass ich es gecheckt hab.  Wieder ertönt ein Knacken und ich spüre, dass Wintel unseren Einzelchat geschlossen hat, was mich erleichtert. In der Stille zähle ich die Sekunden. 32, bis Wintels raue Stimme wieder im geöffneten Gruppenchat ertönt.
"Ausrücken!" Sofort springe ich über das Geländer des Wagens und renne auf den mir genannten Abschnitt zu, welcher mir als roter Kasten im Sichtschutz angezeigt wird. Einer der jüngeren Soldaten läuft neben mir her. Er müsste etwa drei Jahre nach mir geboren sein. Nach einigen Minuten neben ihm her laufen, stelle ich eine Verbindung her und texte ihn an.
"Welchen Teil hast du?" Frage ich ohne ihn anzuschauen. Vor Überraschung verliert er kurz ein wenig Tempo.
"C3." Schickt er mir und holt wieder auf. Ich nicke. Gott, wie ich das hasse. Wintel hat mir tatsächlich diesen Zwerg angehängt. Glaubt er denn nicht, dass ich es selbst schaffe? Und jetzt muss ich mich auch noch um den da kümmern.
"Bleib von mir weg. Ich schaffe das alleine." Zische ich und breche die Bindung ab. Dann biege ich in eine andere Richtung und laufe schneller. Ich will nur, dass er mich vorerst aus den Augen verliert. Als ich mir sicher bin, dass er mir nicht folgt, mache ich mich wieder auf den richtigen Weg. Ich laufe immer schneller, um noch vor dem jungen Rekruten da zu sein. Als ich schon fast da bin, rauscht es kurz in meinem Kopf und Wintels Stimme ertönt.
"Die Arbeit in C3 ist fertig. Helfe bei E2 aus!"
"Jawohl!" Knirsche ich mit zusammengebissenen Zähnen und fühle daraufhin wieder Wintels Abwesenheit. Kurz dannach poppt ein neues Zielfeld rot auf.
Das kann doch nicht wahr sein! Dieser Loca! Er hat doch nicht tatsächlich C3 ohne mich absolviert! Wenn das der Fall ist, bin ich komplett am Arsch. Ich werde verdammter Shitz noch mal durchfallen! Was habe ich mir denn nur gedacht?! Einfach wegzurennen. Sieht ganz so aus, als hätte ich diesen Zwerg unterschätzt. Dieser verdammte Loca! Er ist wahrscheinlich schon auf dem Weg zu E2! Ich hoffe er hat noch Bomben...
Was denke ich da? Soll er doch ohne Bomben verrecken. Er hätte auf mich warten sollen.
Ich laufe zielstrebig auf E2 zu. Mir fällt auf, dass es ziemlich warm ist. Es sammelt sich sogar ein Schweißtropfen auf meiner Stirn und rinnt langsam hinunter. Ab und zu meine ich den Wald wieder zu erkennen und lächle selig. Hier fühlt sich der Waldboden so unglaublich gewohnt unter meinen Füßen an.

Erschreckend bald merke ich, wieso. Ich befinde mich in der Nähe des Territoriums der goldenen Hacker. Ein Schauer läuft meinen Rücken hinunter, als ich erkenne, dass E2 exakt die Grenzen unseres Territoriums sind. Es kann doch nicht sein, dass... Ich renne schneller, so schnell, wie ich kann. Nein, das kann nicht sein. Das darf nicht sein. Je näher ich unserem Unterschlupf komme, desto wärmer wird es und ich erkenne sogar ein wenig Rauch. Ich achte nicht mehr darauf, leise zu laufen, oder getarnt zu bleiben, ich renne nur noch direkt zum Unterschlupf. Zur schlafenden Angess. Zu Lunea. Zum Rest, meiner Familie. Ich muss sie retten. Es darf nicht zu spät sein. Ich würde mir das nie verzeihen. Meine Füße fühlen sich ungelenk an. Ich stolpere über Wurzeln, bleibe an Ästen hängen und falle. Aber ich muss weiter. Ich muss zu Ann.
Als ich auf der Lichtung stehe, herrscht Chaos. Ich sehe in der Ferne einige der angehenden Soldaten. Überall rennen meine Kameraden herum. Einige sehen mich und ich höre jemanden 'Verräter!' Rufen. Und es bricht mir das Herz. Mir steigen Tränen in die Augen. Ich würde die goldenen Hacker niemals verraten. Niemals würde ich nur daran denken. Sie waren es, die mich vor dem Tod gerettet hatten. Sie waren es, die mir das Hacken beibrachten. Sie waren es, die mich lehrten. Sie waren es, die mir Liebe zeigten. Sie bedeuteten mir mein Leben. Und Sie waren es, die mich des Verrates beschuldigen.
Man ist uns auf die Schliche gekommen.

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