'Geheimnisse'

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"Und ich soll echt hier durch?" Frage ich Nakes ein letztes Mal.
"Vertraust du mir?" Fragt er daraufhin und schaut in meine Augen. Ich überlege. Normalerweise vertraue ich keinem. Und schon gar nicht einem Fremden. Andererseits bin ich ihm bis hierhin gefolgt. Bedeutet das nicht auch vertrauen? Und das ich obwohl mir das Risiko klar war trotzdem zu ihm gegangen bin? Ich nicke zögerlich.
"Ich denke schon." Er deutet auf das Flieder. Ich halte die Hände vor mein Gesicht und gehe in die blühenden Pflanzen. Sofort spüre ich Widerstand. Äste kratzen an meinem Körper entlang und ich frage mich, wieso ich das tue. Ganz plötzlich ist der Widerstand verschwunden. Vorsichtig entferne ich meine Hände vom Gesicht. Vor mir befindet sich Pfad. Mitten zwischen dem Flieder. Auf dem Erdboden liegen eine Menge Äste und Blüten, die darauf hinweisen, dass dieser Durchgang vor kurzem erst geschaffen wurde. Und es wurde unordentlich gearbeitet. Der Durchgang ist nur Kniehoch. Quantität vor Qualität. Er ist zum Krabbeln gedacht. Hier jedoch kann ich gerade so stehen. Dies ist eine Art Eingangsportal. Vergleichbar mit einer Luftblase. Zwei Hände greifen meine Taillie und ich bekomme Gänsehaut. Nakes' Hände.  Ich fasse es einfach nicht, was für eine Wirkung er auf mich hat. Sobald ich seine Stimme höre, ich seinen Körper fühle oder seinen Atem in meiner Nähe spüre,  reagiert mein Körper. Ich bekomme Gänsehaut, meine Atmung wird rascher, alle kleinen Härchen meines Körpers stellen sich auf, ich werde rot und Adrenalin pumpt in meinen Adern.
"Hey Baby, dein süßer Arsch ist mir im Weg." Er schiebt meine Hüfte zur Seite und ich verliere für einen kurzen Moment mein Gleichgewicht.
"Arsch." Fluche ich kurz. Er hat es nicht gehört. Stattdessen dreht er sich langsam mit ausgestreckten Armen im Kreis.
"Mein Werk." Seine Handflächen zeigen ausschweifend nach oben. "Dafür, dass du es in so kurzer Zeit geschnitten hast, ist es ganz okay. Zeig mir erst mal den Rest." Sage ich kühl und gehe zwei Schritte Richtung dem Fliedertunnel. 
"Na dann beweg deinen Arsch." Er lacht.
"Blödmann." Fluche ich wieder. Diesmal hat er es gehört, denn er lacht wieder mit seiner tiefen Stimme. Ich gehe auf alle viere und krieche durch die Lücke.
Als ich das Ende des Tunnels erreiche, staune ich.
"Nicht schlecht. Props an dich." Ich bin sichtlich beeindruckt.
"Dies ist mein zweites Heim. Gebaut mit einem Messer und 'ner Menge Flieder.
"Du hast auch ein Messer?" Frage ich Nakes. Mir ist klar, dass es unschlau ist,  ihm zu sagen, dass ich eines mithabe, ohne zu wissen, ob er die Wahrheit sagt.
Links von mir sehe ich eine Art gewebte, flache Kissen. Ein Holzrahmen ausgefüllt mit geschickt ineinander verknoteten Ästen.  Ich setze mich. Mit den Fingern taste ich dieses außergewöhnliche Mobiliar.
"Nakes, das hier ist wundervoll." Ich gestehe mir ein, dass ich ihn bewundere.
"Ich weiß, danke." Er lächelt schüchtern. "Und das Beste is: keine Kameras. Alles, was hier gesagt wird, bleibt auch hier, unter uns." Er fährt sich mit der Hand durch seine verwuschelten Haare.
"Nur wir zwei?" Vergewissere ich mich.
"Nur wir zwei." Bestätigt er mir und setzt sich neben mich auf den Boden. Dabei schaut er mir intensiv in die Augen. Ich höre Vögel leise in der Ferne zwitschern.
"Keine Geheimnisse?" Ich lege meine Tasche vor mich.
"Nein." Sagt er nach kurzem Überlegen. Mein Herz klopft bis zum Hals. Gleich werde ich ihm den Inhalt der Tasche zeigen. Es besteht das Risiko, dass er mich verpfeift und ich auffliege. Waffen sind verboten. Ich atme tief durch und öffne den Reißverschluss. Zuerst hole ich meine Kleidung heraus und lege sie neben mich.
"Wenn du mit 'Geheimnisse' heiße Unterwäsche meinst, dann zeig sie mir nicht. Dann könnte ich nicht widerstehen. Du bist wunderschön, Jenna." Sagt er und legt seine Hand auf meinen Oberschenkel. Ich bin komplett überrumpelt.
"Nein, keine Dessous." Stottere ich.
"Gut." Lacht er und nimmt seine Hand beiläufig wieder weg. Stattdessen rückt er näher an mich heran. Ich warte bis sich mein Atem wieder beruhigt. Dann drehe ich mich in seine Richtung und starre direkt in seine blauen Augen.
"Bevor ich das hier tue, möchte ich, dass du mir versprichst, mich nicht zu verurteilen. Und wehe du verrätst mich." Meine Stimme bebt. "Ich habe Waffen." Meine Stimme versagt. Er nickt.
"Okay." Erwidert er kühl. Ich versuche zu erkennen, was er denkt, aber es ist, lass hätte er eine Maske aufgesetzt. Eine undurchsichtige Fassade.
"Ich weiß, du hast ein Messer, aber ich rede von weitaus mehr." Er nickt. Ich kann sein Pokerface nicht durchschauen. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was er gerade denkt. Verurteilt er mich gerade? Macht er mir Vorwürfe? Hat er vielleicht sogar Angst vor mir? Ich verzweifle. Jetzt wo ich bereits angefangen habe, zu erzählen, muss ich es auch zu Ende bringen. Ich lege die M4 zwischen uns, der Lauf zeigt in seine Richtung. Ich warte auf seine Reaktion.
"Es ist okay. Damit können wir arbeiten." Sagt er und ein Lächeln schleicht sich in sein Gesicht.
"Nein, es ist nicht okay. Ich könnte dich jederzeit damit umbringen!" Rege ich mich auf, dass er die Information so einfach aufnimmt.
"Könntest du nicht." Er lacht schon wieder. Was ist nur mit diesem Typen los?
"Klar könnte ich das!" Rege ich mich auf und greife mir die M4. "Sie ist geladen!" Setze ich aufgebracht einen drauf.
"Du bluffst." Sagt er einfach.
"Was wenn nicht?" Frage ich. Er nimmt meine Hand und hält sich das Maschinengewehr selbst an den Kopf.
"Dann drück den Abzug." Ich stelle es vom halbautomatischem auf Drei-Schuss-Modus um.
"Nein."
"Es ist nicht geladen." Du kannst den Abzug drücken." Sagt er reserviert. Ich erhöhe den Druck auf dem Abzug. Noch 3mm bis zum Schuss.
"Nein." Sage ich wieder und erhöhe langsam den Druck. Noch 2 mm, 1mm...
"Schieß."

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