Test 1

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Jenna P.O.V
Um 7:45 finde ich mich im Klassenzimmer wieder. Außer mir ist nur ein Mädchen mit natürlich roten Haaren da. Ich entscheide mich, mich neben sie zu setzen und gehe auf den freien Platz neben ihr zu.
"Mein rechter rechter Platz ist frei, ich wünsche mir die...?" Sie blickt von ihrem Papier auf und schaut mich erwartungsvoll an.
"Die Jenna herbei." Vollende ich ihren Reim.
"Hey." Sagt sie simpel und schüttelt meine Hand. "Ich bin Christin."
"Hey." Antworte ich etwas schüchtern und setze mich. Christin wirkt gesprächig und das ist nicht so mein Ding. Ich erwarte schon, dass sie den Stift in ihrer Hand weglegt und anfängt etwas über sich zu erzählen, doch sie scheint zu konzentriert auf das Blatt vor sich zu sein. Ihr Bleistift streicht sanft über das Papier und hinterlässt kleine zusammenhangslose Striche. Ich schaue ihr einige Zeit lang zu, bis ich langsam erkenne, was sie zeichnet: Landschaft. Moore und Bäume und in der Ferne meine ich sogar Felder zu erkennen. Die Zeichnung wirkt abstrakt. Die Linien sind keineswegs verbunden, dies alles ist nur eine Skizze. Sie zieht einen Pinsel hinter ihrem Ohr hervor und befeuchtet ihn mit Spucke. Dann tupft sie den feuchten Pinsel in eine Palette Aquarellfarben und beginnt zu malen.
Erst jetzt erwacht das Bild zum Leben. Es erinnert mich an kühlen Sommer. Als Pol und ich noch jünger waren und fern von unserem zu Hause gespielt haben.

'Wer als erstes oben ist, hat gewonnen!' Rufe ich Pol zu und laufe durchs Gestrüpp auf einen Hügel zu. Er symbolisiert für die Bewohner des Forres Distrikts das Ende unseres Territoriums. Wenn man auf dem höchsten Punkt des Hügels steht, kann man den Zug erkennen, der Güter und manchmal auch Menschen in andere Distrikte transportiert. Hinter den Gleisen erstreckt sich die Gebirgslandschaft des Manta Distrikts. Es ist uns verboten ohne offizielle Erlaubnis Forres District zu verlassen.
Pol läuft mir hinterher, stets ein wenig Abstand haltend. Obwohl ich weiß, dass er, wenn er wollte, schneller sein könnte, sage ich nichts. Lachend laufe ich vor und genieße meinen Vorsprung, während ich Pol aus den Augen verliere. Als ich siegessicher und erschöpft oben ankomme, wartet Pol schon auf mich.
"Hier, Jenna. Die hab ich für dich gepflückt." Sagt er und steckt mir ein Gänseblümchen ins Haar. Dann setzten wir uns auf eine grasbewachsene Stelle des Hügels mit Ausblick auf Manta District und die Gleise.

Christins Zeichnung wirkt auf irgendeine Art und Weise real und surreal zugleich. Die Farbe mit der sie malt verläuft ineinander und vermischt sich. Das Moor ist braun gefärbt und der Fluss, der in den Wald am Rand des Bildes läuft, führt grünes Wasser. Die Bedeutung der Bildes ist mir unklar, doch ich selbst finde trotzdem eine Bindung zum Bild und assoziiere es mit dem 'Jetzt'. Das Bild erinnert mich an die verschiedenen Distrikte, den Realitätsverlust der Menschen durch die Virtualität und die nicht rehabilitierte Außenwelt hinter den Mauern. Somit drückt das Bild greifbare Nähe und Fernweh in mir aus. Christin ist eine begnadete Künstlerin und ich erkenne die jahrelange Übung hinter ihrer Kunst.
"Was ist die Bedeutung hinter diesem Bild? Ist das deine Heimat?" Frage ich sie und sehe zu, wie sie den Pinsel auf eine Servierte aus dem Speisesaal legt. Christin schüttelt den Kopf.
"Das hier ist unsere Heimat." Sagt sie und dreht das Bild auf den Kopf. Der graue Balken, den ich fälschlicherweise für eine Wolkendecke gehalten hatte ändert sich zur Mauer. Die ganze Perspektive ändert sich. Ich sehe nicht mehr verschiedene in einander verschwimmende Distrikte, sondern die Außenwelt. Die Welt hinter der Mauer.
"Es gibt immer mehrere Blickwinkel." Sagt Christin und beginnt ihren Pinsel zu säubern. Danach sagt sie nichts mehr und ich tue es ihr nach. Nach einer gefühlten Ewigkeit betritt eine weitere Person den Raum und setzt sich neben mich. Langsam füllt sich der Raum und ich starre auf mein Smartwebmobile. Ping! Eine neue Nachricht.
'Neben dir noch frei? -P' ich tippe schnell eine Antwort.
'Nein, aber das können wir ändern;) -J' "Hättest du was dagegen, wenn wir Plätze tauschen?" Frage ich den Jungen neben mir.
"Und was hab ich davon?" Er grinst mich schräg an.
"Einen Platz zwischen zwei hübschen Mädels."
"Ach, eine reicht mir." Lacht er und zwinkert mir zu. Er rafft seine Sachen zusammen. "Aber wenn du unbedingt willst, kann ich einer Hübschen wie dir ja nicht nein sagen." Ich höre den Humor in seiner Stimme und passe mich an und klimper mit den Wimpern.
"Das wäre natürlich super." Wir tauschen Plätze.
"Ich bin Gill." Sagt er und lächelt.
"Jenna" sage ich und höre wie jemand eine Tasche auf den Tisch neben mir stellt.
"Hey." Klinkt sich Pol ins Gespräch ein und setzt sich.
"Hi." Sage ich und erhebe mich um ihn zu umarmen.
"Ihr kennt euch?" Fragt Gill und hebt eine Braue.
"Selber Distrikt, und du?" Fragt Pol Gill.
"Oh, cool. Ich bin mit meinem Bruder Bill hier, nur ist er in einem anderen Kurs. Die dachten wohl, dass wir bei den Tests Zusammenarbeiten würden." Lacht er spielerisch gekränkt. Das Gespräch verläuft weiterhin nicht besonders interessant oder nennenswert. Wir lernen Gill ein wenig besser kennen und laden ihn zu unserem Tisch ein. In diesem Moment betritt Nakes den Raum und setzt sich eine Reihe hinter mich. Der Klassenraum ist nun gut gefüllt. Es ist 8:49, als der Lehrer ebenfalls eintrifft.
"Ich begrüße alle anwesenden Testpersonen zum Beginn der schriftlichen Prüfungsphase. Dass ihr den Eignungstest bestanden habt, zeigt dass ihr fähig seid." Er macht eine Kunstpause und lässt seine Worte auf uns wirken.
"Überprüfen wir mal die Anwesenheit." Mit diesen Worten holt er die Kursliste heraus und fängt an Namen aufzurufen.
"Henryk Anderson" sagt er mit robuster Stimme und ein Junge mit braunen Wuschelhaaren hebt die Hand. Der Tutor nickt ihm zu.
"Jermy Andrews"  Ein weiterer Junge hebt die Hand und so geht es weiter und er fragt die ganze Liste ab.
"Pamela Snikes" Sein Blick huscht über den Raum, doch keine Pamela meldet sich.
"Pamela Snikes." Wiederholt er lauter und gibt Pamela die Chance sich doch noch zu melden oder urplötzlich im Klassenraum zu erscheinen, doch niemand reagiert.
"Keine Pamela Snikes." Er tätigt den Mechanismus am Kugelschreiber, sodass die Mine erscheint und streicht ihren Namen aus der Liste. Es herrscht Stille. Der Typ murmelt etwas unverständliches und fragt dann nach dem nächsten Namen.
Wir sind alle anwesend außer Pamela. In Gedanken verabschiede ich mich von ihr. In meiner Bauchgegend verbreitete sich ein merkwürdiges Gefühl, als der Tutor ihren Namen das Letzte mal aufrief, wissend, dass für sie hier Endstation ist. Sie hat ihre Chance verpasst, ihr Zug ist abgefahren. Der Lehrer schaut auf seine Uhr am Handgelenk und öffnet durch sein Virreal ein Fenster.
Ich staune, so etwas sieht man äußerst selten. Nicht, weil es schwer ist ein Fenster zu öffnen, sondern weil er soeben sozusagen einen Teil seines Kopfes für uns geöffnet hat. Das Fenster ist mit dem Desktop einer Festplatte vergleichbar. Der Lehrer öffnet mehrere Tabs, jedoch so schnell, dass wir nichts erkennen. Ich pfeife leise. Dieser Typ ist nicht irgendein Arbeiter dem zugeteilt wurde, uns zu testen. Diese Person denkt und handelt daraufhin schnell.
"Öffnet ein Fenster." Weist er uns an. Anfänglich wird gezögert, jedoch öffnet einer nach dem anderen ein Fenster neben oder über seinem eigenen Kopf. Manche Fenster haben Standardgröße, andere sind so minimiert, sodass die Sitznachbarn es kaum erkennen können. Als alle Anwesenden bis auf mich und einen zierlichen Jungen hre Fenster geöffnet haben, starrt uns bereits der halbe Klassenraum an. Der Lehrer schert sich nicht um uns. Stattdessen sehe ich zu, wie plötzlich in allen Fenstern ein PDF Dokument erscheint. Der Lehrer hat es geschafft in einigen Sekunden etliche Verbindungen zwischen sich und den Testpersonen zu schaffen und ihnen ein Dokument von der Größe eines Kubikmeters zu übermitteln. Dass der Junge und ich noch immer leer ausgegangen sind, schert den Lehrer besonders wenig. Er blickt endlich vom Tisch auf und scheint durch uns hindurchzusehen.Dann rafft er seine Tasche auf den Tisch und schüttet den Inhalt auf den Tisch: eine Menge bedrucktes Papier und noch verpackte Bleistifte. Er teilt das Papier mit für mich unverständlicher Logik in zwei Stapel und perfektioniert die provisorischen Stapel. Bitte sag nicht, dass das unser Test ist... ich schaffe das niemals in vier Stunden.
"Ich habe euch eine PDF Datei übermittelt, bitte öffnet sie." Er macht eine kurze Pause in der er einen Papierstapel sorgfältig in die Hände nimmt.
"Hatte jemand Probleme damit, die Datei zu öffnen?" Fragt der Lehrer in die Runde. Niemand antwortet.
"Gut, gut..." Er schreitet betont langsam durch die Klasse. "Die Datei müsste 34 Seiten haben, jedoch ist auf den Seiten kein Platz für Antworten, diese müsst ihr auf einem neuem Dokument erarbeiten." Jedes Wort betont er auf seine eigene Art und weise. Mittlerweile ist er beim Tisch des Jungen angekommen und legt einen Papierstapel wie beiläufig vor ihn. Viele mögen das ignorieren, mir aber fallen seine Absichten sofort auf. Er will nicht, dass der Junge zusätzliche Aufmerksamkeit erteilt bekommt. Ob das in meinem Fall positiv oder negativ ist, kann ich nicht einschätzen, jedenfalls legt er auch einen der perfektionistisch gespitzten Bleistifte vor den Jungen und der vorderste Teil der Mine bricht ab. Nicht viel, dem Jungen fällt es noch nicht mal auf.
'Nicht wichtig.' Rede ich mir ein und beobachte den Mann.
"Wenn Sie ein Glas Wasser wollen, heben Sie die rechte Hand, falls Sie "-er guckt den Jungen und mich kurz an, gerade lang genug, damit wir verstehen, dass wir gemeint sind. "Einen neuen Bleistift benötigen, heben Sie die linke Hand." Vervollständigt er seinen Satz wobei seine Absichten mir wieder unglaublich schleierhaft erscheinen. Eben wollte er nicht, dass wir uns von der Masse abheben, und jetzt erklärt er etwas für nur diese zwei besagten Personen.
"Und falls sie wünschen, den Raum zu verlassen um beispielsweise etwas zu essen, oder die Toiletten zu benutzen, heben Sie beide Hände. Systemarbeiter stehen bereit, um sie zu begleiten."
Der Typ schaut auf seine Uhr und bewegt sich dann in meine Richtung.
"Heute werdet ihr in 'Geschichte&Geographie' getestet." Als er an meinem Tisch ankommt, legt er den anderen Stapel Papier darauf, daneben den Bleistift.
"Sobald ihr fertig seid, könnt ihr den Raum ohne weiteres verlassen. Ein Weg zurück wird euch nicht gewährt." Er schaut durch die Klasse. Sein Blick schweift über die Schüler.
"Noch Fragen?" Einige schütteln den Kopf, keiner antwortet.
"Dann nicht." Sagt er wie zu sich selbst und kratzt sich am Kopf. Dann wühlt er in seiner braunen Ledertasche und zieht eine Kaugummidose heraus. Neunundzwanzig Augenpaare verfolgen, wie zwei Kaugummis in dem Mund des Professoren landen.  Gelangweilt kaut er sein Kaugummi und 29 Schüler beobachten ihn. 29 vollkommen unterschiedliche Schüler, die für die Tests auserwählt wurden, die den Eignungstest bestanden haben, die in Kurs 2 eingeordnet wurden und nun hier sitzen. Das haben wir gemeinsam, und die Voraussetzung dafür: unseren Verstand.
Der Tutor wirft einen Blick auf seine Uhr und grummelt etwas unverständliches. Dann guckt er uns genervt an, als wollte er nicht hier sein. Im Bruchteil einer Sekunde erscheint ein riesiger Timer auf der Wand hinter ihm. Der Timer zeigt 8 Nullen, er ist bis auf die Millisekunde genau.
04:00:00:000
"Viel Erfolg." Sagt der Mann und schaut uns an. Irgendwas in seinem Blick verwirrt mich. Ist es Reue? Mitleid?
Ich bin am Überlegen, als mir auffällt, dass sich der Timer in Bewegung gesetzt hat. Ich bin bereits einige Sekunden im Verzug. Und mit dem Gedanken an meinen minimalen Nachteil widme ich mich dem Stapel vor mir.

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