Heimat

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Ich sitze in einem rein quadratischen, weiß gestrichenen Raum. Vor mir steht ein kleiner Tisch. Darauf liegen ordentlich gestapelt einige Blätter und einzig ein sauber angespitzter Bleistift. An der Wand vor mir hängt eine Uhr. Im Verhältnis zum circa vier Quadratmeter großen Zimmer wirkt die Uhr viel zu groß und fehl am Platz. Abgesehen von der Uhr sind die Wände kahl. Als wäre die Uhr das Einzige, worauf ich mich konzentrieren sollte.
"Nehmen Sie Platz, Miss Leenson." Sagt mir ein Arbeiter und ich setze mich. Zumindest nehme ich an, dass es ein Arbeiter ist, denn er steht hinter mir und mir wurde gesagt ich solle mich nicht umdrehen.
"Werfen Sie einen Blick auf die Blätter vor Ihnen. An der Zahl sechs Stück." Ich zähle die Blätter nach und nicke kurz, als ich mich vergewissert habe, dass der Test vollständig ist.
"Sie haben für den ganzen Test exakt 15 Minuten, nicht mehr und nicht weniger. Keine Sorge, das ist schaffbar. Pro Seite findet sich jeweils eine Frage, welche Sie beantworten sollen. Nutzen Sie dazu die vorgegebenen Linien." Ich nicke widermals.
"Sobald ich die Tür hinter mir schließe, läuft Ihre Zeit." Informiert mich der Arbeiter und ich höre, wie er sich umdreht um den Raum zu verlassen. Die Tür schließt sich hinter ihm und ich schaue erwartend zur Uhr. Keiner der drei Zeiger bewegt sich. Ich warte einige Sekunden, drehe mich dann um und rufe : "Die Uhr geht nicht!" Ich erhalte jedoch keine Antwort. Die Tür hinter mir scheint massiv und wahrscheinlich geräuschedicht. Ich sehe ein, dass rufen nichts bringt und wende mich meinem Test zu. Ich darf keine Zeit verschwenden.

Es ist 13:00 Uhr. Punkt 13:00 Uhr. Die Zeiger haben sich bis jetzt nicht bewegt.
Woher ich weiß, das es 13:00 Uhr ist? Ich sehe es auf der Uhr des Arbeiters, der mir den Test abnimmt.
"Du hast 67 Minuten gebraucht, das heißt du hast 7 Minuten überzogen." Informiert er mich. Ich nicke. Das ist nicht gut. Gar nicht gut. Wenigstens habe ich alles fertig gekriegt. Und selbst wenn nicht alles richtig ist, sollte ich doch gut genug gewesen sein, oder nicht? Schließlich ist dies ein grober Test und die untere Schicht abzuziehen. Ich kann nicht anders, als mir Sorgen zu machen. Schließlich sind hier alle intelligent, sonst wären sie nicht hier. Ob ich wohl zur unteren Schicht gehöre? Beim Gedanken den Eignungstest nicht bestanden zu haben zieht sich mein Magen zusammen. Wie sollte ich das nur meiner Familie beibringen?
"Ich begleite Sie jetzt auf ihr Zimmer. Es ist Ihnen nicht gestattet mit anderen Probanten über den Test zu reden und sich auszutauschen. Es besteht das Koalitionsverbot."
Ich nicke. Wir werden sowieso überwacht und ich habe nicht vor denjenigen die uns beobachten zu zeigen, was ich denke und wie ich mich fühle.
Der Arbeiter in der mir bekannten azurblauen Kleidung nimmt mich am Arm und führt mich endlich aus dem kleinen Raum. Sobald ich aus dem Testraum austrete, atme ich tief durch und das falsche Gefühl von Freiheit pumpt durch meine Adern. Kurz darauf wird mir auch dieses Gefühl durch einen Arm, der mich greift, genommen .
"Ich begleite Sie auf Ihr Zimmer, Miss Leenson." Ohne mich umzudrehen ist mir sofort bewusst, dass dieser Mann von vorhin ist. Ich nicke und lasse mich zu meinem Zimmer führen. Ich spüre seine Gegenwart bis ich in meinem Zimmer stehe, denn die Tür schließt sich und der Arbeiter bleibt draußen stehen.
Sofort fällt mir die Stille im Raum auf und mein Blick schweift zu Jasmin, welche auf ihrem Bett liegt und gelangweilt den Teller mit ihren Getreidekeksen betrachtet.
"Was meinst du, wie lange du noch hier bleiben wirst?" Fragt sie in die Stille hinein. Die Frage klingt nicht abwertend, sie versucht nicht anzudeuten, dass ich bald rausfliegen werde, weil ich nicht gut genug bin, sondern ihre Frage klingt ehrlich, tiefgründig überlegend.
"Keine Ahnung, wieso ?" Frage ich sie und angle mir einen Apfel aus meiner Tasche. "Du auch?" Biete ich ihr auch einen an. Sie lehnt ab.
"Ich glaube, ich fahre bald nach Hause." Sagt sie geistesabwesend und greift zu einem ihrer Getreidekeksen. Sie greift zu den Getreidekeksen, bei denen ich vermutet hatte, dass sie vergiftet wären. Beim Gedanken daran, dass sie sich selbst vergiften würde, läuft mir ein Schauer den Rücken hinunter. Genüsslich beißt sie hinein.
"Heimat.." Während sie das sagt, verliert sich ihr Blick in der Ferne und verliert den Fokus. Sie sinkt in ihre Kissen. Geschockt verschlucke ich mich an meinem Apfel. Nach einem schmerzvollem Hustenanfall, fange ich mich wieder. Meine Augen tränen. Nicht nur vom Husten, sie tränen auch vom Fakt, dass Jasmin gerade die Tests verlassen hat. Ich erhebe mich und trete an ihr Bett heran. Ich betrachte sie von Kopf bis Fuß. Ihre Arme hängen schlaff von den Seiten und ihr Blick ist starr. Ich beschließe ihr die letzte Ehre zu erweisen und Klappe ihre Augenlider hinunter.
Plötzlich trifft mich eine unglaubliche, innere Wut. Mir ist bewusst, dass irgendjemand gerade vor einem Bildschirm sitzt und die ganze Situation gerade mit ansieht. Vielleicht beobachtet die Person uns aus mehreren Perspektiven. Vielleicht sind es sogar mehrere Personen. Aber egal aus welchem Blickwinkel man auf die Situation von oben heran hinuntersieht, den Tod der innerlich verzweifelten Jasmin ist nicht zu übersehen. Wer auch immer gerade hinter dem Bildschirm sitzt und dreckig gegrinst hat, während sie starb ist widerlich. Wer auch immer mich gerade durch die Linse im Bilderrahmen gegenüber von mir mich beobachtet, versucht meine Reaktion aufzufangen, ist einfach nur abgrundtief widerlich.

Kennst du dieses Geräusch? Dieses schreckliche Geräusch, wenn jemand kurz vorm Weinen ist und die Stimme bricht? Dieser hauchdünne Übergang von sich Zusammenreißen und die Kontrolle über sich verlieren. Kennst du das? Kannst du dir das vorstellen?
Wenn ja, dann stelle dir das vor. Stell dir vor, wie mir urplötzlich kalt wird. Stell dir vor, wie ich die Kontrolle über mein Gesicht verliere und es sich merkwürdig und unglaublich hässlich verzieht. Stell dir vor, wie ich meine Knie an mich ziehe und meine Hände in meinen Ärmeln verstecke. Und dann kommt genau dieses Geräusch. Wie ich die Selbstbeherrschung verliere und direkt in die Kameralinse gucke. Wie du mich durch den Bildschirm vor dir anguckst. Wie ich dich angucke, ohne dich zu sehen. Und dann meine Stimme bricht.

Bist du jetzt zufrieden? Ist es das, was du sehen willst?

Heyyy,
Ich hoffe niemand hatte Jasmin geliebt, denn jetzt ist es vorbei mit ihr. (Oder nicht?)
Ich habe hier eine neue Perspektive ausprobiert, hoffe es hat euch gefallen. Und hoffentlich habt ihr was beim Lesen gefühlt, denn das war mein Ziel.

Bis dann,
In hoffentlich besseren Zeiten

Eure Evy_Dok

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