Illusion

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Ich sitze still, voll bekleidet auf meinem Bett, die Knie angezogen . Totenstill. Seit Jasmin den Tests entgleist ist, habe ich mich nicht gerührt. Es ist bestimmt schon spät. Die Morgendämmerung bricht bereits an und ich bin noch immer wach. Der Gedanke daran, mit einer Leiche im selben Zimmer zu schlafen, widert mich an. Es liegt nicht daran, dass sie tot ist oder daran, dass ihr Körper in einer merkwürdigen Position verrenkt ist und ihr Arm schlapp an der Bettkante hängt. Es ist nichts dergleichen. Ich bin mit dem Tod aufgewachsen. Was mich stört ist der Gedanke an die Leute, die sie umgebracht haben.
Sie hat Suizid begangen!, wirst du jetzt denken. Vielleicht. Vielleicht ist es so. Technisch gesehen. Nur hat sie sich meiner Meinung nach nicht selbst umgebracht. Sie hat ihrem Körper das Leben genommen, aber nicht sich selbst. Sie selbst ist innerlich bereits früher gestorben. Und das war Menschensschuld. Sie wurde in diese Situation gezogen. Der Druck, der auf ihr lastete, hat sie umgebracht. Und den Druck hat das System auf ihre Schultern gelegt.
Mein Blick strahlt puren Hass aus. Nur schaue ich nicht mehr in die Kamera. So dumm bin ich nicht, ihnen eine Show abzuliefern. Tränen, Heulkrämpfe. Das ist nicht richtig. Und je länger ich in die Kameras Blicke, desto mehr verrate ich mich. Sie dürfen nicht wissen, was ich weiß.
Meine Gedanken schwirren umher, während ich in die Ferne starre. Ich bin so müde. Und kaputt, verletzt, sogar verängstigt und unsicher. Ich habe Angst. Was bietet mir der Morgen? Der nächste Tag? Die Zukunft?

Wohl oder übel muss ich mir eingestehen, dass ich kurz eingenickt sein muss. Denn als ich meine Augenlider öffne, ist Jasmin weg. Ihr Bett ist ordentlich zugedeckt, so als hätte sie nie darin gelegen und sie wäre nur ein Hirngespinst meinerseits gewesen. Die Sonne ist noch nicht vollends aufgegangen. Daraus kann ich schließen, dass ich für maximal 10 Minuten weg war. Mein Smartwebmobile zeigt 5:04 an.
Und doch war es genug Zeit um alle Anzeichen auf das jemals existierende Leben der Jasmin Frea aus der Welt zu schaffen. Oder zumindest aus diesem Zimmer. Ich stehe langsam aus dem Bett auf. Meine Muskeln fühlen sich abartig steif an. Nervös laufe ich im Zimmer auf und ab. Wenn sie Jasmin so einfach aus der Welt schaffen konnten, wie lange würde ich dann noch hier bleiben. Meine Selbstzweifel kommen mal wieder auf. Ich kann keine klaren Gedanken fassen, also greife ich zu meiner Tasche und mache mich auf den Weg zum ersten Stock.

Eigentlich wollte ich zum Trainingscenter, um mich abzulenken, jedoch finde ich mich nach einiger Zeit vor einer eisernen Tür wieder. Ich hebe meinen Kopf, um das vor mir hängende Messingschild zu betrachten. 'Simulationsraum' steht darauf. Und darunter:'Betreten bitte nur mit einer geeigneten Autoritätsperson'. Ich lächle schief. 'Bitte' Ist das ein Witz? Bitte? Wie können sie mich etwas bitten? Hatte ich gebeten, hier zu sein? Hatte ich gebeten, hierher gebracht zu werden, weit weg von meiner Familie und meinem Zuhause. Und dann noch unter Beobachtung und unter immensen Druck, irgendwelche lebenswichtigen Tests zu bestehen. Hatte ich darum gebeten? Nein. Und nun will ich selbst in diesem Käfig will ich ein Stückchen Freiheit haben. Wagemutig halte ich also meinen Zeigefinger in den Scanner und beobachte das Lämpchen... welches zu meiner Überraschung tatsächlich grün aufleuchtet.

Sebastian Viscus P.O.V:

Obwohl es kaum sechs Uhr ist, bin ich bereits arbeitsfähig auf den Beinen und auf den Weg zum Hauptkontrollraum. Dort treffe ich auf einen Arbeiter, der anscheinend die Frühschicht übernimmt und dessen Name mir wohl noch nicht geläufig ist. Jedoch verrät mir diesen das Namensschild seiner Uniform. Als der Arbeiter bemerkt, wer hinter ihm steht, steht er auf, um sich vor mir zu verbeugen und mir so den nötigen Respekt entgegen zu bringen. Ich nicke ihm kurz zu und bedeute ihm so, wieder zurück an die Arbeit zu gehen. Er sitzt vorm Bildschirm und beobachtet eine der Testpersonen. 'Eileen Westinger' steht oben links auf dem Bildschirm. Mein Blick schweift nur kurz über das Display. Eileen schläft. Ich langweile mich. Ich Streife weiter durch den Raum, an anderen Arbeitern und Bildschirmen vorbei. Großteils ist es still und eine stille, beruhigende Aura umhüllt mich. Bis ich jemanden unaufhaltsam auf dem Bildschirm tippen, auf der Tastatur herumhämmern und rein und rauszoomen höre. Interessiert gehe ich zu jenem Arbeiter hinüber und lege meine Hand auf die Lehne seines Drehstuhls. Ich erwarte, dass er aufsteht und sich verbeugt, um mir ebenfalls Respekt entgegen zu bringen, doch der Arbeiter erhebt sich nicht. Stattdessen, wechselt er die Kamera Perspektive auf dem Bildschirm und beobachtet das bewegte Bild vor ihm. Doch dieses bleibt nicht lange und man sieht die Testperson direkt aus einer anderen Perspektive. Das Gesicht ist mir geläufig, der Name ist mir jedoch entfallen. Ich frische meine Erinnerung auf und betrachte die Kennzeichnung oben links auf dem Gerät. 'Jenna Leenson', das war er, der Name.
Sie befindet sich im Flur 1C.
"Chip Informationen abrufen." Befehle ich dem Arbeiter.
"Tut mir leid, es sind keine Chip Informationen vorhanden."
"Wie bitte?" Frage ich in scharfem Ton.
"Es handelt sich bei Jenna Leenson um einen Fehler, Sir." Sagt der noch ziemlich junge Arbeiter. Er müsste um die 24 Jahre alt sein. Und schon arbeitet er hier bei den Tests mit. Er muss wohl besonders oft befördert worden sein.
"Höchstinteressant." Sage ich nachdenklich und beobachte, wie sie hinter einer Ecke in den Flur 1E abbiegt. Sofort wechselt der Arbeiter zu einer anderen Kamera und ich sehe, wie Jenna Leenson vor dem Raum 1E03 zu Halt kommt.  Dem Simulationsraum.
"Ranzoomen." Befehle ich.
"Sir, soll ich sie wegschicken..?" Fragt der Arbeiter. Ich lehne ab und bedeute ihm zu schweigen. Ich beobachte, wie Jenna Leenson zögerlich ihren Finger in Richtung des Scanners ausstreckt.
"Sir, sie will den Raum ohne bescheinigte Begleitperson betreten."
"Das sehe ich." Sage ich gespannt beobachtend.
"Soll ich den Zugang versperren? Ich kann einen untergeordneten Arbeiter schicken, um.."  Weiter kommt er nicht, denn ich schneide ihm das Wort ab. "Shhh!" Ich mache hier die Regeln. Das hier ist mein System.
Ihr Fingerabdruck wird nun gelesenen es werden sämtliche Informationen, wie Herzfrequenz und Blutdruck angezeigt. Ein Fenster erscheint auf dem Bildschirm.
"Zugang gewähren." Weise ich an.
"Sind Sie sich sicher?" Fragt der Arbeiter eindringlich. Aufgebracht wende ich mich ihm zu.
"Wer sindSie, meine Entscheidung infrage zu stellen?" Frage ich. Dieser Arbeiter muss definitiv ausgetauscht werden. Er denk selbst zu viel nach. Und als Arbeiter sollte er einfach nur Arbeit verrichten, nicht urteilen.
Das Lämpchen leuchtet grün auf und gewährt Jenna Leenson freien Zugang.

Jenna P.O.V:

Ich laufe durch den Wald. Das morsche Holz knirscht unter meinen Stiefeln, der Wind streift durch meine Haare und ich atme den gewohnten Geruch ein. Ich achte nicht, wohin ich laufe, denn das ist mir unwichtig. Hauptsache ich habe das Gefühl zu Hause zu sein. Angekommen. Zurück in meiner Heimat, dem Wald. Doch das hier ist nicht dasselbe. Ich gebe zu, der Wald ist dem zu Hause ähnlich, aber doch erkenne ich die Feinheiten. Nicht alle Bäume sind richtig angeordnet, und auch sind manche zu dünn und andere zu dick. Einem normalen Bürger würde es nicht auffallen, sie waren ja noch nie im Wald. Jedoch fällt es mir, die im Wald praktisch aufgewachsen ist, jedes Detail auf.
Zögernd mache ich vor einem kleinen See halt. Es ist der See, in dem mir mein Vater damals Schwimmen beigebracht hat. Mir war gar nicht aufgefallen, wie weit ich doch gelaufen war. Ich setze mich an den Ufer und ziehe die Stiefel aus. Dann suche ich mir meine Lieblingsstelle und lasse die Beine ins Kühle Nass baumeln. Doch auch hier ist es nicht dasselbe. Meine Füße berühren den Grund des Sees. Enttäuscht ziehe ich meine Beine wieder aus dem Wasser und lege mich auf die von der Sonne zu viel bestrahlte Wiese, damit ich trockne. Unbewusst fange ich an, alte Lieder zu Summen, bis ich in die Vergangenheit getragen werde und singend in Erinnerungen schwelge.

"'Kämest du nach Hause, mein Mädchen,
Wo die Vögel nur für dich zwitschern,
Wo die Angler ihre Beute Fischern,
Wo der Wind dir durch die Haare bläst,
Dort wärest du zu Hause.

Komm nach Hause, meine Geliebte ,
Wo das Meer nur für dich rauscht,
Wo der Wald deinen Worten lauscht,
Wo die Sonne für dich scheint,
Dort wärest du zu Hause.

Komm nach Hause, meine Frau,
Wo die Blumen für dich blühen,
Wo wir alle uns um dich bemühen,
Wo ich darauf warte, deine Hand zu halte'...."

Ich habe vergessen, wie das Lied weitergeht, denn ich habe es seit meiner Kindheit nicht mehr gesungen, nur spielt dies keine Rolle, da sowieso jemand mir die Intimität des Ortes nimmt.
"Dort dort bist zu Hause." Wird mein Lied vervollständigt. Mir läuft ein Schauder über den Rücken, als ich mich umdrehe, und erkenne, wer mich gestört hat. Wer in meine Welt eingedrungen ist, in meine Kindheit, obgleich das hier nur eine Simulation ist. Für einen Moment hatte sich alles um mich herum Echt angefühlt.
Ich verbeuge mich gesetzesgemäß.
"Guten Morgen, Mister Viscus." Salutiere ich monoton. Für jeden wäre es eine Ehre, ihn vor sich stehen zu haben, doch ich habe einfach nur pure Angst vor ihm.
"Dir gleichfalls." Sagt er und mustert mich von oben herab. Ich schweige. Was soll ich denn auch sagen oder tun?
"Zurück in die Heimat, oder wie?" Fragt Sebastian Viscus und mir läuft ein Schauer über den Rücken. Vor mir steht der mächtigste und reichste Einwohner der Welt.
"Kann man so sagen. Dies ist mein altes Distrikt, Forres." Ich versuche die Tatsache, dass ich im Wald, im verbotenen Wald, stehe so gut wie möglich zu ignorieren.
"Magst du den Wald?" Fragt er und irgendwie klingt seine Stimme leicht herablassend.
"Er scheint..nett." Sage ich nachdenklich. Er darf nicht wissen, dass der Wald so gut wie meine Heimat ist, wobei wenn er schon länger hier ist, er das wohl schon länger bemerkt haben müsste.
"M-hm." Sagt er nachdenklich. Ich verlagere angespannt das Gewicht meines Körpers von einem Bein auf das andere.
"Wenn du das Frühstück nicht schon wieder verpassen willst, sollten wir diese kleine Illusion hier wohl beenden?" Die Frage steht in dem Raum wie gefrorene Luft. Denn Widerrede wird nicht geduldet. Ich schaue auf den Waldboden unter meinen Stiefeln. Die Stille um mich herum, bemerke ich erst, als ich wieder aufschaue.
Denn ich befinde mich wieder im Simulationsraum.

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