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Alex

Ich komme mir vor wie der größte Schwächling auf Erden. Ich konnte meine Tränen noch gerade so zurückhalten, doch ein paar haben doch meine Augen verlassen und Jo hat es gesehen. Ich schäme mich dafür, in der Öffentlichkeit zu weinen. Doch Jo hat nicht gelacht, das hätte wohl auch niemand erwartet, sie ist schließlich kein Arsch. Stattdessen hat sie mich in den Arm genommen, was mich merkwürdigerweise voll und ganz beruhigt. Schnell bin ich wieder ich, will Jo aber noch nicht loslassen. Es fühlt sich so gut an, sie ganz nah bei mir zu haben. Was denke ich da bloß? Solche Gedanken kommen mir in letzter Zeit viel zu häufig. Im Sportunterricht habe ich sie ständig angesehen. Einmal hat sie es anscheinend auch gemerkt. Ich würde mal wissen wollen, was Jessica zu ihr gesagt hat, was sie so sichtlich aus dem Konzept gebracht hat.

„Ich kann und will dich zu nichts zwingen. Ich hoffe aber, dass du dich wehren wirst, sobald du dich bereit dazu fühlst.", spricht sie mir ins Ohr und lässt mich wieder los. Aufmunternd lächelt sie mir zu, bevor sie in Richtung des Schulgebäudes geht. Bald fängt die nächste Stunde an.

Die letzte Stunde muss ich Jan neben mir ertragen, der immer wieder versucht, mit mir ein Gespräch anzufangen, welches ich jedes Mal abblocke. Er nervt mich und in letzter Zeit habe ich wirklich nicht mehr das Gefühl, dass wir noch auf einer Wellenlänge sind, falls wir das überhaupt jemals waren. Nach der Stunde warte ich vor dem großen Gebäude auf Jo und muss mich anstrengen, sie in der Menschenmenge zu finden. Sobald ich sie dann entdecke, greife ich mir ihr Handgelenk und nehme sie mit zu einem Auto.

„Was soll das? Man kann auch mal fragen!", beschwert sie sich.

„Na gut, dann frage ich eben. Darf ich dich entführen?"

„Wenn du mein Einverständnis hättest, wäre es wohl kaum noch eine Entführung." Darauf muss ich lachen. Das ist Jo, so wie ich sie kenne.

„Du hast so oder so keine Wahl."

„Verrätst du mir wenigstens, wo wir hinfahren?", lässt sie nicht locker und hält sie krampfhaft an der Tür fest. Sie muss meine Fahrkünste verabscheuen.

„Dann wäre es keine Überraschung mehr. Hoffentlich kennst du den Ort noch nicht."

Wenige Minuten später sind wir auch schon da. Ich parke das Auto zwischen ein paar verlassenen Häusern. Hier muss mal eine Verwaltungsstelle oder etwas Ähnliches gewesen sein. Über einen großen Parkplatz kommen wir auf einen abgesperrten Weg, der von kahlen Bäumen umgeben ist, zwischen denen sich graue verlassene Häuser mit eingeschlagenen Fensterscheiben befinden.

„Ich möchte ja nicht nörgeln, aber das hier wäre auch der perfekte Ort, um jemanden umzubringen. Bitte versprich mir, dass du nicht vorhast, mich zu töten." Ihre Stimme klingt gespielt ängstlich, aber ihre Augen strahlen vor Begeisterung. Dabei ist das hier nicht mal das Beste, aber für einen Horrorfan wie sie ist das hier natürlich spannend.

„Keine Sorge, wo würde ich denn sonst meine Mathenachhilfe herbekommen?", sage ich zum Spaß, worauf ich einen Schlag auf den Arm kassiere. Gegen die Schläge meines Vaters fühlen sich ihre wie die einer Maus an. Ich will jetzt auf keinen Fall an ihn denken und verbanne ihn schnell wieder aus meinem Kopf.

Wir biegen ab zu einem Platz, der umgeben ist von einer großen, alten Halle, die mit Graffiti besprüht ist und einem Unterstellfläche, mit Stapeln von Kisten. Mich würde interessieren, was sich hinter den großen Hallentüren versteckt, nur sind diese immer verschlossen. Weiter geradeaus kommen wir auf einen Pfad, der zu einem Hügel führt. Genau das hier war mein Ziel. Oben angekommen genieße ich wie jedes Mal die Aussicht. Der Hügel ist ebenfalls umzingelt von Bäumen und Sträuchern und nur durch eine recht kleine freie Stelle kann man auf die Landschaft blicken. Vor uns liegen Felder, unterbrochen von einem Fluss und wunderschön angestrahlt von der Sonne. Da zurzeit Schnee liegt, sieht das noch tausendmal schöner aus. Mein Blick schweift zu Jo ab, die beeindruckt das Bild in sich aufnimmt.

„Gefällt es dir?"

„Du willst mich wirklich nicht umbringen.", ist das einzige, was sie vorerst zu sagen hat, was mich etwas enttäuscht. „Wie hast du das hier gefunden?"

„Ein Freund hat mich vor ein paar Jahren mal hierher geführt. Es gibt in der Gegend noch viel mehr zu sehen, aber diesen Hügel habe ich am liebsten." Ich glaube, ich war vierzehn, als mein damaliger bester Freund mir diesen Ort gezeigt hat. Von da an bin ich häufiger hergekommen und habe den Hügel entdeckt.

„Das kann ich verstehen." Jo sieht mir wieder in die Augen und sofort verspüre ich erneut dieses komische Gefühl. Es ist wie die letzten Male. Wir schauen beide nicht weg und da ist etwas in mir, das mich antreibt, sie zu küssen. Ich sehe von ihren Augen auf ihre Lippen und komme ihr näher. Verdammt, warum tue ich das? Und warum will ich mich selber nicht stoppen? Insgeheim hoffe ich, dass Jo das für mich übernehmen könnte, doch diese steht regungslos und wie erstarrt vor mir. Und dann passiert es auch schon. Ich küsse Jo. Es ist ein kurzer und unschuldiger Kuss. Sobald ich meinen Mund von ihrem trenne, hinterlässt das ein Prickeln auf meinen Lippen. Der Küsse mit Samantha waren schon nicht schlecht, aber das hier war nochmal so viel anders. Ich hätte niemals erwartet, dass man bei so einem Küsschen so viel empfinden kann. Heißt das etwa, ich habe echt Gefühle für Jo oder bin sogar in sie verliebt? Diese Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag und steigert mein Verlangen, sie nochmal zu küssen. Diesmal nehme ich hier Gesicht in meine Hände und drücke meine Lippen auf ihre. Dieser Kuss ist schon etwas verlangender. Jo erwacht aus ihrer Starre und ist erst komplett angespannt, dann scheint sie es allerdings zuzulassen und krallt sich in meine Jacke. Ich bin etwas überrascht, dass sie mich nicht angewidert von mir stößt. Dafür stehen wir auf diesem Hügel, die Sonne und das Schneeland im Hintergrund und küssen uns gefühlte Stunden, als gäbe es keinen Morgen mehr.

Mit einem bis kurz vorm Platzen strahlendem Gesicht betrete ich pfeifend unser Haus und entdecke Chelsea in der Küche.

„Da ist aber jemand gut drauf. Gibt es einen bestimmten Grund dafür?", fragt sie neugierig.

„Nö.", lüge ich wenig überzeugend.

„Naja, ich werde es sowieso herausfinden. Sag mal Brüderchen, wie würdest du reagieren, wenn ich einen Freund hätte?", wechselt sie plötzlich das Thema.

„Ich wäre anfangs wahrscheinlich etwas wütend und würde mich dann damit abfinden."

„Du bist der beste Bruder!", fällt sie mir um den Hals. „Das wird Tom bestimmt beruhigen." Sie rennt die Treppe hoch zu ihrem Zimmer und lässt mich verwirrt zurück. Moment, was ist gerade passiert? Meine kleine Schwester ist mit diesem Tom zusammen? Ich dachte immer der ist schwul. Ganz gegen ihre Erwartungen grinse ich jetzt noch mehr. Verrückter Tag.

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