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Jo

Acht Jahre später

Es ist Freitagnachmittag, meine sechste Stunde ist gerade rum und wie immer bleibt als letzte die kleine Emma übrig.

„Wo ist denn deine Mama, Emma?", frage ich sie fürsorglich. Als Lehrerin sollte man sowas nicht denken, doch sie gehört zu meinen Lieblingsschülern. Da ich so oft mit ihr zusammen auf ihre Mutter warte, haben wir uns etwas kennengelernt und ich habe sie ins Herz geschlossen. So unzuverlässig wie ihre Mutter ist, würde ich sie manchmal am liebsten adoptieren, doch das sind natürlich nur Spinnereien.

„Kommt gleich.", sagt sie knapp, mit einem niedergeschlagenen Ton in ihrer hohen, leisen Stimme. Sie gehört zu der schüchternen Sorte, die man im Unterricht kaum mitbekommt und auch nicht viele Freunde hat. Ab und zu erkenne ich selbst mich in ihr wieder. Hoffentlich wird ihr Teenagerleben nicht auch so verlaufen wie meins oder gar noch eintöniger. Naja, es war nicht immer ganz so eintönig. Eine Viertelstunde später traf dann endlich ihre Mutter ein, wir mussten oft schon länger warten, aber ich wollte Emma nie allein lassen. Einmal hatte sie mich gefragt, warum ich keine Kinder habe und ob ich in ihr meine Tochter sehe. Ziemlich seltsame Fragen für eine Neunjährige, allerdings könnte ich wirklich ein paar Muttergefühle auf sie projizieren. Woher sollte man aber auch Kinder haben, wenn man keinen Mann für sowas hat? Ich ließ mir ganz sicher keines von einem One-Night-Stand schenken.

„Könnten sie es nicht mal einrichten, ihre Tochter pünktlich abzuholen?", frage ich ihre Mutter vorsichtig, ohne dass Emma es hören kann.

„Ich habe nun mal keinen Halbtagsjob wie sie!", faucht sie mich an. An solche Sprüche muss man sich als Lehrerin wohl oder übel gewöhnen, obwohl sie völliger Quatsch sind.

„Dann überlegen sie sich bitte eine Alternative." Eingeschnappt nimmt sie ihre Tochter am Arm und stürmt davon. Eine seltsame Frau.

Auf dem Weg zum Ausgang kommt mir Jeremy entgegen, Sport- und Deutschlehrer an derselben Grundschule, nur wenige Jahre älter als ich, gut aussehend...und single! Leider kam es noch nie zu mehr als einem Flirt. Ich bin immer noch viel zu feige, um einen Schritt nach vorn zu wagen und er macht es einfach nicht.

„Na, Johanna! Schönes Wochenende wünsche ich dir. Hast du irgendwas Besonderes vor?", fragt er mich wie immer freundlich und über das ganze Gesicht strahlend.

„Danke, dir auch. Eigentlich nicht. Unterrichtsvorbereitung und auf dem Sofa mit einem Buch entspannen. Jetzt werde ich mir auf alle Fälle einen Kaffee besorgen."

„Ich muss dieses Wochenende auf ein Familienfest mit einer ewig langen Fahrt, aber was soll man machen? Ich muss mich auch schon auf den Weg machen. Schade, sonst hätte ich dich gerne begleitet. Man sieht sich Montag!" Damit ist er auch schon weg und lässt mich enttäuscht zurück. Einen Kaffee hätte er doch wohl noch geschafft!

Stattdessen gehe ich also allein zu einem Bäcker in der Nähe und bestelle mir einen Kaffee zum Mitnehmen. Auf Milch und Zucker verzichte ich wie gehabt. Während ich auf mein Bestelltes warte, geht die Tür auf und jemand bestellt neben mir das Gleiche. Beim ersten Mal ist mir gar nichts aufgefallen, doch als ich ein zweites Mal seine Stimme höre, bleibt mir fast das Herz stehen. Ich wage es kaum, einen Blick zur Seite zu werfen und gleichzeitig will ich es mehr als alles andere wissen. Kleine Kopfdrehung, Schuhe, Hose, Hemd, Alex' Gesicht. Meine Augen werden riesig und mein Mund ist sperrangelweit nach unten geklappt. Nach acht Jahren Funkstille steht Alex plötzlich bei einem einfachen Bäcker neben mir. Er muss wohl bemerken, dass er angestarrt wird und dreht seinen Kopf zu mir. Ich muss mit meinem Gesichtsausdruck völlig bescheuert aussehen, aber ich kann nichts dagegen machen. Ich bin vollkommen überwältigt. Wer hätte erwartet, dass er noch attraktiver werden konnte? Er müsste jetzt schon 27 Jahre alt sein, ich bin noch 26 Jahre alt, dennoch nahe genug an den 30igern, was irgendwie ziemlich deprimierend ist. Allerdings hat sich nicht nur Alex verändert, obwohl er ja schon immer so verboten gut aussah, nur eben erwachsener heutzutage. Ich habe mich ebenfalls weiterentwickelt. Statt schwarzen, zwei Nummern zu großen Pullis trage ich nun Blusen oder Kleider bei der Arbeit und auch privat, die tatsächlich so aussehen, als hätte ich sie aus der Frauenabteilung. Ich bereue keinesfalls, was ich damals aus mir gemacht hatte, aber es ist auch gut, wenn man sich weiterentwickelt.

„Jo?", bringt Alex endlich ungläubig hervor, nicht weniger überrascht als ich. Es ist ungewohnt, dass mich jemand Jo nennt, seit meinem Abschluss bin ich nur noch Johanna, außer bei Tom. Tom, der sich leider nach seinem Abschluss ebenfalls von Chelsea getrennt hat, wegen der Entfernung der Uni und seitdem ein Leben als Playboy führt. Ausgerechnet Tom, eine unerwartete Wendung.

„Alex, was für eine Überraschung dich zu sehen." Aber was für eine!

„Wirklich. Wow, du siehst so anders aus, dich hätte man ja fast nicht wiedererkannt.", staunt er.

„Du hast dich auch verändert. Du siehst natürlich immer noch umwerfend aus!" Sofort werde ich puterrot, was sein breites Grinsen nicht unbedingt lindert.

„Wie kommt es, dass ich dich erst heute wiedersehe? Wohnst du hier?", will ich endlich wissen und die Peinlichkeit überspielen.

„Ja, allerdings erst ein paar Wochen. Ich arbeite hier an der Förderschule in der Nähe. Und was machst du jetzt beruflich?" Ich staune nicht schlecht, welchen beruflichen Weg Alex eingeschlagen hat und welche Ähnlichkeit er zu meinem hat.

„Ich bin Grundschullehrerin hier in der Nähe.", dann fange ich tatschlich an zu lachen. Ich könnte mir so gegen die Stirn schlagen! „Es hat mich einfach nur aus den Socken gehauen, dich wiederzusehen.", gebe ich zu.

„Mich erst. Witzig, hattest du nicht vorhergesagt, dass wir uns in acht Jahren wiedertreffen oder sowas Ähnliches?" Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, aber wenn es stimmt, dann ist das echt ein Zufall. Wir bekommen beide unseren Kaffee in die Hand gedrückt und verlassen die Bäckerei. Automatisch schlagen wir den gleichen Weg ein und beginnen über alte Zeiten, die letzten acht Jahre und heute zu reden. (Er ist übrigens auch nicht vergeben! Wo gibt es denn sowas?) In meinem Kopf schwirren so viele Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit, wie wir uns erstmal richtig kennengelernt haben und aus Freundschaft sowas wie Liebe wurde. Es tut mir fast leid, dass wir damals getrennte Wege gegangen sind, doch ich bin weiterhin der Meinung, dass es die richtige Entscheidung war. Mein Problem hat sich auch eindeutig gebessert.

„Warum grinst du so?"

„Ach nichts, ich denke nur gerade an unsere gemeinsame Teenagerzeit. Du hast ganz schön Spannung reingebracht.", lache ich, worauf er ebenfalls grinsen muss. Dieses Grinsen, das ich viel zu lange nicht gesehen habe und für das Frauen auf der Stelle sterben würden, mich eingeschlossen.

„Also sterben müsst ihr nicht gleich für mich." Erschrocken über seine Aussage huste ich meinen Kaffee wieder aus. Verdammt, das habe ich doch nicht etwa laut gesagt? Beruhigend streichelt Alex mir über den Rücken, während ich einen Hustenanfall erleide. Jedoch ist mein Kopf von null auf hundert von seiner Berührung eingenommen und ich werde acht Jahre zurückgeschleudert.

Es war der Abiball und wir befanden uns auf einer verlassenen Terrasse, haben gerade miteinander getanzt.

„Wir sollten das nicht tun, es ist einfach noch nicht unsere Zeit. Diese Trennung war nicht umsonst.", meinte ich klipp und klar.

„Und wann ist unsere Zeit?", fragte Alex zweifelnd.

„Vielleicht in acht Jahren?", meinte ich sarkastisch. Ich freute mich auf unser Wiedersehen in acht Jahren. Vielleicht war es dann wirklich so weit.

„Tut mir leid, ich wollte dich nicht wirklich sterben lassen.", beschwört er ernsthaft besorgt.

„Schon gut.", winke ich ab, noch abwesend.

Flüchtig streiften sich unsere Hände, dennoch hinterlässt es solch ein Prickeln, welches anscheinend auch Alex aufgefallen ist. Wir sehen uns beide erst verwundert, dann sehnsüchtig in die Augen und das ist genau der Moment, in dem mir klar wird, dass nun unsere Zeit begonnen hat. Alex lächelt mich so liebevoll an, wie damals, als wir ein Paar waren. Als würde er mir sagen wollen: Ja, das ist sie.

Ende. Wow, ich kann es gar nicht fassen, dass ich schon meine vierte Geschichte beendet habe und dass sie tatsächlich Leute lesen und dafür bin ich euch einfach unendlich dankbar. Ich hatte nicht vor, eine große Dankesrede zu formulieren, denn letztendlich wäre es sowieso immer wieder das Gleiche: Danke.

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