Chapter 5| •Grateful•

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Raven saß an der Hausbar in Marcel's Loft und rührte in einer weißen Tasse herum, deren runder Körper sich nach oben weitete und die ganz klassisch auf einer ebenso weißen Porzellanuntertasse stand.
Die Flüssigkeit darin war milchig mit einem bernsteinfarbenen Schimmer.

Sie fragte sich, ob Marcel es merken würde, wenn sie einen Schluck seines teuersten Whiskey in ihren Chai-Tee gab. Denn sie brauchte Alkohol.
Seit Marcel seine rechte Hand Thierry eingemauert hatte, da dieser einen anderen Vampir getötet hatte, dieser wiederum hatte Thierry's Hexenfreundin auf dem Gewissen -Jedenfalls nervten sie Marcel's Selbstvorwürfe und das Selbstmitleid, was daraus hervorkam. Die Vampirin fühlte sich, als würde jemand mit einer Spitzhacke auf ihr Gehirn einschlagen und dabei leise vor sich hin weinen.

Vielleicht lag es auch einfach daran, dass sie über die Jahrhunderte niemandem beigestanden hatte, der sich wie ein jaulender Hund Wunden leckte. Nein, Raven Thornwall war in solchen Situation auf ihren Absätzen elegant davonstolziert.

Aber um das angeknackste Bündnis mit Marcel Gerard zu halten, biss sie die Zähne zusammen und leistete ihm Beistand. Auch wenn sie das wohl mit dem Verlust einiger Hirnstränge bereuen würde...

Marcel betrat in dem Moment den großen, offenen Raum und ließ sich neben ihr nieder. Er wirkte müde und angespannt. Mit einem bemüht teilnahmsvollen Gesichtsausdruck wandte sich die brünette Vampirin ihm zu. 

"Du bist eine grauenvolle Schauspielerin."kommentierte er ihre seltsam verzogene Grimasse trocken. "Keine Pluspunkte, weil ich es versuche?"wollte sie schnippisch wissen und ihre Gesichtszüge glätteten sich wieder zu dem gewohnt harten Ausdruck. "Hast du jemals Anteilnahme gezeigt und Mitgefühl gehabt oder ist dir dieses Gefühl vollkommen fremd?"fragte er ungeniert. Erstaunt zog sie die Augenbrauen hoch und schien ernsthaft darüber zu überlegen. 


1446, England 

Ein zierliches Mädchen trat in den großen Schlafsaal mit den steinernen Wänden und den Holzbalken, die die Decke säumten. 

Ein Mann saß auf einem opulenten Bett, den Kopf in die Hände gestützt und den Rücken zu ihr gewandt. Die in sich zusammengesunken Gestalt strahlte puren Schmerz aus. 

Leise schloss sie die riesige Holztür hinter sich und ging auf ihn zu. Ihr violettes Kleid raschelte leise, wenn sie einen Schritt nach vorne machte. 

Ihre großen, braunen Augen lagen auf dem Rücken des Mannes, der nur ein Leinenhemd über der Lederhose trug, es hing schlaff an seinem Körper hinunter. 

Das kleine Mädchen war zart wie eine Puppe, braune, lange Haare fielen ihr gewellt über den Rücken und am Hinterkopf hatte jemand in liebevoller Arbeit kleine Zöpfe geflochten und sie miteinander verschlungen. 

Schweigend kletterte sie neben den Mann auf das Bett und schlang von vorne ihre dünnen Arme um seine Schultern, ihren Kopf legte sie auf seine Schulter und schmiegte sich so gut es ging an ihn. Auch wenn der Mann, der in seinen mittleren Jahren war, keine Regung zeigte, merkte er die Anwesenheit des kleinen Mädchens und er sog dankend den Trost der Geste in sich auf. 


"Nein, dieses Gefühl ist mir wirklich unbekannt, aber ich sehe das nicht wirklich als Nachteil."erwiderte sie mit einer engelsgleichen Stimme und formte mit ihren dunkelroten Lippen ein kaltes Lächeln.  "Wie du meinst."tat er es ab und erhob sich. Sobald er ihr den Rücken zudrehte, schwand die Zuversicht aus ihrem Blick und sie starrte wie betäubt ins Leere. 

"Ich habe eine Bitte."riss Marcel sie aus ihrer Starre und sofort füllten sich ihre dunklen Augen wieder mit Leben. "Du bittest mich?"hakte sie überrascht nach, ihr wollte sich nicht erschließen, warum Marcel sie um etwas bitten würde, wenn er doch nur zu gern betonte, dass sie nicht vertrauenswürdig sei. Vielleicht hatte ihr miserabler Anteilnahmeversuch etwas gebracht. Raven war überrascht wie leicht man Bündnisse stärken konnte, es war nich mal anstrengend gewesen...

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