K A P I T E L 39

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Langsam und schweigend liefen wir aus der Kirche heraus, in der gerade die Beerdigung von Alessio's Vater stattgefunden hatte. Alessio hatte eine wunderschöne, emotionale Rede gehalten, die alle Anwesenden zum weinen gebracht hatte, auch ihn selbst. Ich konnten den Gedanken daran, ihn in den Arm zu nehmen und ihn zu trösten nicht verhindern, sodass ich sofort auf ihn zu lief, als er unten an den Treppen der Kirche in seinem schwarzen Anzug stand und mit einigen älteren Frauen sprach. Ohne zu zögern legte ich die Arme um seinen Nacken und zog ihn zu mir runter. Es dauerte einige Sekunden, bis er die Umarmung erwiderte, seine Hände auf meinen Rücken legte und mich noch näher an sich drückte. Erneut konnte ich nicht verhindern, dass mir die Tränen in die Augen stiegen und ich leise an seiner Schulter schluchzte. Es sollte nicht nur eine tröstende Umarmung sein, diese Umarmung war ebenfalls der erste Körperkontakt von uns beiden nach drei Jahren und es erschreckte mich, wie sehr meine Knie begannen zu zittern und ich fühlte, wie eine riesige Last von meinen Schultern fiel. ,,Wein nicht, alles ist okay'', flüsterte er an meinem Ohr und streichelte mir mit seiner großen Hand über die Haare. ,,Es tut mir so leid, was mit deinem Vater passiert ist, Alessio. Ich wäre so gerne für dich da gewesen, habe aber alles erst nach seinem Tod erfahren'', weinte ich leise und vergrub mein Gesicht zwischen seiner breiten Schulter und seinem Hals. Alessio verstärkte den Arm um meinen Körper und hauchte mir einen federleichten Kuss auf den Kopf. ,,Ich hätte mir auch gewünscht, dass du bei mir gewesen wärst'', murmelte er. Seine Stimme klang brüchig, als würde er jeden Moment beginnen wieder zu weinen. Um das zu vermeiden löste ich mich von ihm und legte den Kopf in den Nacken um ihn ansehen zu können. Alessio's Augen waren glasig und er sah mich mit einem klitzkleinen Lächeln an. Seine Hände umfassten mein Gesicht und er musterte es einige Zeit, bevor er mir meine Tränen mit den Daumen von den Wangen wischte.
Minutenlang standen wir so da, starrten uns gegenseitig in die Augen. Ich genoss seine Hände an meinem Körper mehr als ich eigentlich sollte und bekam gleich ein schlechtes Gewissen, als sich Ivan einige Schritte von Alessio entfernt in mein Blickfeld schlich und uns beide misstrauisch beobachtete. Reflexartig ging in ein paar Schritte zurück, sodass sich Alessio's Hände von meinem Gesicht lösten und er sie mit gerunzelter Stirn senkte. ,,T-Tut mir leid'', stotterte ich und ging mit schnellen Schritten an ihm vorbei auf Ivan zu. Ivan lächelte mich, wenn auch etwas gezwungen, an und öffnete seinen Arm, den er mir dann um die Schulter legte. ,,Was sollte das?'', fragte er nach wenigen Minuten schweigen und ich sah zu ihm hoch. ,,Was meinst du?'', fragte ich und tat so, als wüsste ich nicht genau, wovon er sprach. ,,Das Umarmen mit ihm. Er konnte seine Finger nicht einmal bei sich lassen, obwohl er weiß, dass du mir gehörst!'' Ich spürte, dass er allmählich wütend wurde und löste mich schnell aus seinem Arm, um ihm besser ins Gesicht schauen zu können. ,,Gott, Ivan. Stell dich nicht so an. Er hat mir leid getan und ich wollte ihn trösten!'' Ich spürte, wie auch ich langsam wütend wurde und zog die Augenbrauen zusammen. ,,Getröstet? Das sah nicht nach Trost aus, Joana! Wieso macht ihr nicht gleich rum?'' Bitte was?! Okay, er hatte es eindeutig zu weit getrieben, so etwas zu behaupten. ,,Ist das dein verdammter ernst?! Sein Vater ist gestorben! Was soll ich tun? Dabei zusehen, wie er zu Grunde geht?!'' ,,Es geht ihm gut, Joana! Das ist doch alles nur gespielt, damit du dich ihm wieder näherst!'' Das hatte er nicht wirklich gesagt, oder? Wo ist der liebevolle Junge geblieben, in den ich mich so verliebt hatte? ,,Geh mir aus dem Weg, Ivan. Ich habe keinen Nerv dafür, dieses Gespräch noch weiter zu führen!'' Ich wollte an ihm vorbei gehen, doch er ließ es nicht zu, indem er mich am Arm packte und zurück zog. ,,Du bleibst hier. Wir klären das jetzt!'' ,,Lass mich los, Ivan. Sofort!'' Ich zischte ihn wütend an und sah ihm vernichtend in die Augen. Er war plötzlich wie ausgewechselt. Noch nie hatten wir uns gestritten, genau aus dem Grund, dass er sonst so liebevoll gewesen ist, sodass wir in Ruhe unsere Probleme lösen konnten. Aber von seiner liebevollen Art war keine Spur mehr. ,,Nein, ich lasse dich nicht gehen. Nicht jetzt.'' Was sollte das denn jetzt bedeuten? Verstand er nicht, dass ich nicht mit ihm sprechen wollte? ,,Du sollst mich los lassen!'' Er verstärkte seinen Griff um meinen Arm und es begann zu schmerzen. ,,Du wirst jetzt nicht gehen, verdammt!'' ,,Du sollst sie los lassen, Ivan. So schwer zu verstehen?'', rief plötzlich eine Stimme hinter mir. Als ich den Kopf drehte, sah ich Carlos, der mit großen Schritten auf mich zu kam. Als er bei uns angekommen war, löste sich Ivans Hand endlich von meinem Arm und ich strich mir mit der Hand drüber, da es wirklich schmerzte. ,,Sollte ich noch einmal sehen oder hören, dass du Joana so grob anfasst, wird das Konsequenzen haben, verstanden?'', drohte Carlos und sah Ivan sauer an, der sich einfach umdrehte und mit schnellen Schritten davon ging. Ivan wusste genau wie jeder andere, dass man sich besser nicht mit Carlos anlegen sollte und ich bedankte mich innerlich bei Gott, dass Ivan wenigstens in dieser Hinsicht noch Verstand hatte und einfach ging. ,,Alles okay? Hat er dir sehr weh getan?'', fragte Carlos mich nun liebevoll und ich schenkte ihm ein kleines Lächeln. ,,Es geht schon, danke.'' Das war nicht mal eine Lüge, es ging wirklich, aber wahrscheinlich auch nur, weil ich an durchaus heftigere Schmerzen gewohnt war. Trotzdem wusste ich mit Sicherheit, dass ich einen blauen Fleck bekommen würde, wo Ivan an meinem Oberarm zugedrückt hatte.

Mission IncompleteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt