Scarletts Pov
Lissy ist schon weiter zu dem Raum gegangen, in dem sie jetzt Unterricht hat und ich stehe alleine vor meinem Schließfach. Trotzdem habe ich irgendwie das Gefühl beobachtet zu werden.
An meiner alten Schule in Toronto wurden immer wieder Wertgegenstände und Geld aus Schultaschen gestohlen. Deshalb sind wir irgendwann dazu übergegangen, unsere Portmonees in den Schließfächern einzuschließen. Ich sehe keinen Grund, mit dieser Tradition jetzt zu brechen und werfe mein schwarzes Ledermäppchen, in dem immerhin hundertfünfzig Dollar stecken, die ich gespart habe, hinein. Warum ich das Geld mit in die Schule schleppe? Ganz einfach. Wenn Mum es zu Hause in meinem Zimmer findet, zwingt sie mich dazu, damit zur Bank zu gehen und es so anzulegen, dass ich erst in ein paar Jahren darauf zugreifen kann. Das will ich nicht. Verständlich oder?
Jasons Pov
Ich stehe hinter der Mauer vor der Glastür, die zu den Schließfächern führt, und warte darauf, dass Scarlett verschwindet. Das schlechte Gewissen drückt jetzt schon auf meinen Magen. Dabei habe ich noch überhaupt nichts getan. Aber ich werde etwas tun.
Noch geht es zurück. Noch hast du nichts getan, Jason. Die Stimme in meinem Kopf versucht mich unaufhörlich davon zu überzeugen, einen Rückzieher zu machen. Aber es gibt kein Zurück. Das ist nur Einbildung.
Kein Zurück.
Wenn ich zurückgehe, bringt er mich um. Dieses Mal wirklich.
Bei dem Gedanken an die Schläge zucke ich schon jetzt zusammen.
Wer hat mich mit so einem Sohn gestraft?
Rums.
Merk dir das fürs nächste Mal.
Rums.
Du hast es verdient.
Rums.
Gefällt dir das?
RUMS.
Scarlett wirft die Tür zu ihrem Schließfach zu und verlässt den Gang auf der entgegengesetzten Seite durch eine andere Glastür. Jetzt ist es so weit. Mit schwitzigen Fingern drücke ich die Tür auf und trete in den Gang. Ich bin alleine. Die anderen haben alle Unterricht. Ich eigentlich auch. Aber ich fehle so oft, dass das eine Mal mehr oder weniger auch nicht auffällt.
Es war ein Leichtes, mir gestern Scarletts Zahlenkombination zu merken, als ich hinter ihr stand und ihr beim Öffnen der Tür über die Schulter geblickt habe.
Drei drei zwei fünf sieben.
Diese Zahlen spuken seit ich sie mir gestern gemerkt habe in meinem Kopf herum.
Drei drei zwei fünf sieben. Drei drei zwei fünf sieben.
Vielleicht wird es einfacher für mein Gewissen, wenn ich die Zahlen stur vor mich hin denke.
Drei drei zwei fünf sieben.
Ich greife nach dem Rädchen und schiebe es nach rechts. Und noch eine Runde. Und auf die zwei. Und auf die fünf. Als der schwarze Pfeil auf die sieben zeigt, höre ich das Schloss klicken. Ich habe es geschafft. Langsam ziehe ich die Tür auf und blicke hinein. Sie hat es mir einfach gemacht. Ihr Portmonee liegt ganz oben auf dem Bücherstapel. Ich kann von Glück sagen, dass sie so leichtsinnig ist und es immer hier ablegt. Sie hat Angst, es würde ihr sonst aus der Tasche geklaut werden. Ironie des Schicksals würde ich mal sagen.
Ich strecke meine Hand aus und greife nach dem Mäppchen. Ich halte es fest und will es schon in meinen Rucksack packen, als ich ihr Gesicht vor mir sehe. Wie sie am ersten Tag mit mir auf der Parkbank gesessen hat. Das ist erst zwei Tage her. Unmöglich. Aber es ist so. Wie sie bei Cole aus der Terrassentür zu mir in den Garten getreten ist und nicht nachgebohrt hat, warum ich nicht bei den anderen drinnen bin. Wie wir die ganze Nacht miteinander um die Häuser gezogen sind. Wie wir irgendwie auf der Bordsteinkante vor McDonalds gelandet sind. Wie sie ohne zu zögern heute morgen auf dem Schulhof direkt auf mich zugekommen ist. Und während ich an ihr Gesicht denke, beginne ich, mich selber anzuwidern. Was hat sie damit zu tun, dass mein Vater ein Arschloch ist und ich ein Idiot bin?
Als hätte ich mich daran verbrannt, werfe ich das Portmonee zurück zu den Büchern ins Fach. Drehe mich um. Laufe zurück in Richtung Schulhof. In Richtung Park. Allein sein. Genau das brauche ich jetzt.
Ich spüre die Schläge schon wieder auf mich eindonnern. Dabei hat es noch überhaupt nicht begonnen. Aber der alleinige Gedanke daran zerfetzt mich.
Drei. Rums.
Ich bin wie benebelt.
Drei. Rums.
Dabei habe ich nichts geraucht und auch nicht getrunken.
Zwei. Rums.
Meine Gedanken bilden eine dichte Wolkenfront und ich kann nichts dahinter erkennen.
Fünf. Rums.
Als ich schließlich völlig erschöpft auf der Parkbank zum Sitzen komme, weiß ich noch nicht einmal, ob ich das Schließfach wieder geschlossen habe oder nicht.
Sieben. RUMS.
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He Ain't All Bad
Fanfiction„Wer ist der da drüben?“, frage ich und deute quer durch den Gang auf einen tättowierten Jungen, der mir schon seit einigen Minuten aufgefallen ist. Ich merke, wie sich ein verträumter Ausdruck auf Lissys Gesicht breit macht. "Das ist Jason. Jason...