Das scheinbare Ende kam so plötzlich, dass ich die Gefahr, die darin gelodert hat, nicht wahrgenommen habe. Überhaupt habe ich die Gefahr, die von ihm ausging, falsch eingeschätzt. Völlig falsch. Doch würde ich sagen, dass ich es spätestens dann, als er mich verletzt wie ich war alleine im Wald zurückgelassen hat, spätestens hätte merken müssen, wäre das eine große Lüge. Ich hätte es weitaus früher realisieren sollen. Doch spätestens jetzt, wo er mich so übel zugerichtet hatte, hätte ich meine Mutter einweihen müssen. Oder mir anderweitig Hilfe suchen. Mit seiner Einlieferung ins Krankenhaus schien jedoch erst einmal alles vorbei zu sein. Er würde Hilfe bekommen. Coles Mutter hatte seinen Vater angezeigt. Alles würde gut werden. Das waren meine Gedanken damals. Dumme Gedanken. Dumme dumme dumme Gedanken. Dummes kleines Mädchen. Sieh nur, was du damit angerichtet hast.
Scarletts Pov
Als ich zu mir komme, kann ich zuerst nicht zuordnen wo ich bin und wie ich hierher gekommen bin. Probehalber bewege ich meine Hände, die zu beiden Seiten meines Körpers auf dem Boden neben mir liegen. Etwas raues, feinkörniges befindet sich darunter. Ich ziehe beide Hände zu Fäusten zusammen und die kleinen Körner setzen sich unter meinen Fingernägeln fest. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich meine Augen immer noch fest geschlossen halte. So fest, als wollte ich mich damit vor etwas schützen, was ich auf keinen Fall sehen darf. Langsam öffne ich sie und mein Blick richtet sich auf ein Eichhörnchen, dass in einer der unendlich vielen Baumkronen über mir eine Nuss in den kleinen Händchen hält. Die Erkenntnis, dass ich mich im Freien befinde und die kleinen Körnchen unter meinen Fingernägeln staubiger Dreck sind, lässt mich zusammenfahren. Mit dem darauffolgenden Schmerz in meiner linken Schulter kehrt auch die Erinnerung zurück. Mein Atem wird heftiger und ich fange an zu weinen. Wie bin ich hierher mitten in den Wald gekommen? Hat er mich hier hin gebracht, nachdem er… Mein Schluchzen wird zu einem Wimmern und ich schließe die Augen vor der schrecklichen Wahrheit.
Jasons Pov
Meine Faust knallt immer wieder gegen die Matratze, die neben mir liegt. Und wieder. Und wieder. Das scheint nicht genug zu sein dafür, was sie mit Scarlett gemacht hat. Das war nicht ich. Das war meine Faust. Das war meine Wut. Ich hasse mich für meine Wut. Ich hasse mich so sehr, dass die weiche Matratze nicht mehr genügt und ich auf die Wand der Hütte umsteige. Holzsplitter bohren sich bei jedem Schlag in meine Hand. Ich mache weiter. Es wird zu einem mechanischen Rhythmus. Dumpfe Musik in meinen Ohren.
Scarletts Pov
Als der Anruf kommt, liege ich schon seit mehreren Stunden weinend in meinem Bett. Ich konnte um kurz nach eins unbemerkt ins Haus gelangen, da sowohl Mum als auch Josey schon am schlafen waren. Dass ich eigentlich um zwölf hätte zu Hause sein sollen, ist meine geringste Sorge. Die rote Farbe meiner Nase und meiner linken Schulter machen mir eher zu schaffen. In den nächsten Tagen wird das zu lila und grün werden. Ich brauche Mum gegenüber eine gute Erklärung, wenn ich ihn nicht verraten will. Ich kann seinen Namen nicht denken. Ich bringe es einfach nicht über mich. Nach dem, was in den letzten paar Stunden passiert ist, kommt er mir vor wie ein dunkles Phantom, vor dem ich einfach nur weglaufen möchte und muss.
Immer wieder findet aber auch ein anderer Gedanke seinen Weg durch all die Angst. Er ist dort allein. Er hat kaum etwas zu essen und zu trinken. Er könnte sich etwas antun. Immer, wenn dieser Gedanke droht, sich an die Oberfläche der Angst zu bohren, drücke ich ihn mit aller Macht wieder nach unten, als wäre ich ein Mörder und er mein Opfer, das ich versuche zu ertränken, das es aber immer wieder schafft, seinen Kopf über die Wasseroberfläche zu befördern.
Mein Handy klingelt und ich sehe Jasons Nummer auf dem Display. Mein Instinkt sagt mir, das Telefon mit Fingerspitzen anzufassen und mit aller Macht gegen meine Zimmertür zu schmettern. Aber in diesem Moment ist der hartnäckige Gedanke der Sorge so präsent, dass ich das Display nach rechts streiche und den Anruf entgegennehme.
„Hallo?“, melde ich mich zögerlich.
„Guten Abend. Officer Johnson hier. Stratford Police Department. Spreche ich mit einer Scarlett?“ Sofort beschleunigt sich mein Puls und ich sitze kerzengerade in meinem Bett.
„Warum haben sie sein Handy? Ist etwas passiert?“ Diese Frage ist so unheimlich absurd. Ob ihm etwas passiert ist? Mir ist etwas passiert. Mir. Mir. Er hat mich….
„Wir haben ihn ohne Papiere in einer Hütte im Wald gefunden. Ein Nachtspaziergänger ist auf ihn aufmerksam geworden, weil er dumpfe Schläge aus dem inneren der Hütte vernommen hat. Ihr Freund hat vermutlich über einen längeren Zeitraum mit seiner Faust auf eine der Wände eingeschlagen. Der Mann hat uns benachrichtigt, da er sich nicht getraut hat, die Hütte selber zu betreten.“ Mein Atem stockt. Ich habe das Gefühl, mein Blut gefriert mir in den Adern.
„Warum..“ meine Stimme versagt und ich möchte erneut ansetzten um meine Frage zu Ende zu bringen, aber der Officer hat wohl schon verstanden, was ich wissen möchte und kommt mir zuvor.
„Ich rufe gerade sie an, weil ihre die letzte Nummer ist, die er mit seinem Handy gewählt hat. Das was zwar schon vor einigen Stunden, aber so handhaben wir das, wenn wir auf Menschen stoßen, die nicht ansprechbar sind und keine Papiere dabei haben, damit wir herausfinden können, wer sie..“
„Nicht ansprechbar? Was ist los mit ihm?“, unterbreche ich den Officer in einem plötzlichen Anfall von Besorgnis. Warum ich besorgt bin, weiß ich nicht. Ich sollte froh sein, dass er nicht ansprechbar ist. So könnte er mir nicht wehtun. So könnte er mich nicht…. Eis. Schokolade. Vanille. Erdbeer. Josey, Mum und ich am Strand. Reiß dich zusammen, Scarlett.
„Es ist nichts Schlimmes. Er hat sich nur überanstrengt und dazu anscheinend die letzten Stunden über weder etwas gegessen noch getrunken. Was unverständlich ist, da wir hier mit ihm Müsliriegel, Sandwiches und Wasser gefunden haben.“ Der Officer wirkt nachdenklich. Vermutlich wittert er die Story seines Lebens. („Ja Sherriff. Genau. Vermutlich ein Drogenboss, der wahnsinnig geworden ist und deshalb von seinen Gefolgsleuten mit nur wenig Verpflegung in dieser Hütte untergebracht wurde. Werde ich jetzt befördert?“) Ich sehe plötzlich bildlich vor mir, wie dieser Officer Johnson lächelnd über Jason steht und über dessen Handy mit mir spricht. Galle steigt mir in die Speiseröhre und ich muss hart schlucken, bevor ich weitersprechen kann.
„Wo ist er denn jetzt? Immer noch in der Hütte?“, frage ich.
„Mittlerweile ist er auf dem Weg ins Krankenhaus. Deshalb bräuchten wir auch seinen Namen und seine Anschrift, damit wir seine Angehörigen benachrichtigen können.“ Erleichtert atme ich einen Stoß angesammelter Luft aus. Also ist er nicht mehr in der Hütte. Nicht diesem widerlichen Polizisten ausgesetzt. Ich weiß, dass meine Gedanken völlig falsch sind, da dieser Mann bloß seine Arbeit macht und Jason eher helfen als schaden möchte. Aber ich kann sie nicht verhindern und antworte deshalb etwas patzig auf seine Frage.
„Ich kenne seine Anschrift nicht. Bin schlecht in Straßennamen.“ Das ist sogar die Wahrheit. Ich weiß zwar genau, wie ich zu ihm nach Hause komme, aber die Straße und Hausnummer könnte ich nicht sagen. Genauso wenig die von Cole oder die von Lissy. Obwohl ich bei beiden schon zu Hause gewesen bin.
„Mhh. In Ordnung. Da kann man nichts machen. Und sein Name?“, höre ich den Officer wieder durch die Leitung. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich vorhin absichtlich nur auf die Frage nach der Anschrift und nicht die nach seinem Namen geantwortet habe. Allein der Gedanke an seinen Namen lässt mich erschaudern, weshalb ich ihn bisher auch nicht zugelassen habe.
„Hallo? Sind sie noch dran?“, meldet sich Johnson ein weiteres Mal, als ich nicht antworte. Ich schlucke erneut und als ich seinen Namen schließlich in den Mund nehme, tröpfeln die einzelnen Buchstaben wie heiße Lava über meine Lippen hinweg auf meine Hände hinunter, die zitternd auf meinem Schoß liegen, und scheinen diese zu verbrennen.
„Jason. Jason McCann.“
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He Ain't All Bad
Fanfiction„Wer ist der da drüben?“, frage ich und deute quer durch den Gang auf einen tättowierten Jungen, der mir schon seit einigen Minuten aufgefallen ist. Ich merke, wie sich ein verträumter Ausdruck auf Lissys Gesicht breit macht. "Das ist Jason. Jason...