Part 16

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Scarletts Pov

Den ganzen Tag über halte ich nervös Ausschau nach Jason. Aber nichts. Er taucht einfach nicht auf. Wann immer ich Cole oder Jai begegne durchzuckt mich ein Hoffnungsschimmer, dass er vielleicht doch noch gekommen ist. Aber ich werde jedes Mal enttäuscht. Die beiden laufen heute zu zweit durch die Schule. Ihr Anführer fehlt. Und das den ganzen Tag. Ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen. Auch an sein Handy geht er nicht. Sowohl Cole als auch ich haben mehrfach versucht ihn zu erreichen. Er ist zwar eigentlich eher unzuverlässig, aber das passt nicht zu ihm.

Ich kenne ihn zwar erst seit gut vier Tagen, aber ich weiß bereits, dass er einen ohne guten Grund niemals so in der Luft hängen lassen würde. Vor allem nicht Cole. Seinen besten Freund. Außerdem hat er ihn angelogen. Und ich glaube kaum, dass er einfach nur angeben wollte. Dafür hätte er einfach irgendeins der zahlreichen Mädchen, die sich ihm hier tagtäglich an den Hals werfen, abzuschleppen gebraucht.

Die Sache mit seinem Vater. Dieser Ausdruck geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Er hat sich dort eingenistet wie ein lästiger Floh im Fell eines Hundes.

Ich habe Jason bestimmt schon zwanzig Nachrichten geschickt, aber auch darauf bekomme ich keine Antwort. Noch nicht einmal eine Lüge als Ausrede. Einfach gar nichts. Ich laufe also heute schon den ganzen Tag voller Sorgen durch die Schule. An mein geknacktes Schließfach habe ich um ehrlich zu sein keinen Gedanken mehr verschwendet. Das Schloss ist gewechselt und der Code auch ein anderer. Da kommt so schnell keiner mehr ran.

„Hallo? Scarlett? Hörst du mir überhaupt zu?“ verwirrt blicke ich Lissy entgegen und schüttele der Kopf.

„Was?“, frage ich. Sie verdreht genervt die Augen.

„Ich hab dich gefragt, ob du deinen Nachtisch willst, oder ob ich den essen darf.“, wiederholt sie anscheinend nicht zum ersten Mal ihre Frage.

„Tut mir leid. War in Gedanken. Kannst ihn haben.“, antworte ich entschuldigend und schiebe ihr meinen Pudding über den Tisch hinweg zu.

„Ist bei euch noch Platz?“, höre ich Coles Stimme hinter mir und drehe mich intuitiv um, weil ich immer noch nicht die Hoffnung verloren habe, Jason plötzlich neben ihm stehen zu sehen. Doch ein weiteres Mal ist Jai der einzige, den ich außer Cole sehen kann.

„Klar. Setzt euch.“, antworte ich und rücke mit meinem Stuhl ein paar Zentimeter näher an den Tisch heran, damit die beiden an mir vorbei zu den leeren Stühlen neben Lissy und mir laufen können. Cole setzt sich direkt neben mich, sodass Jai sich sichtlich widerspenstig neben Lissy niederlassen muss. Der soll sich mal nicht so anstellen. Da ich schon den ganzen Tag darauf warte, diese Frage zu stellen, zögere ich nun keine Sekunde, bis ich mich zu Cole umdrehe und damit herausplatze.

„Hast du mittlerweile was von Jason gehört?“, frage ich und ich meine so etwas wie Verzweiflung in meiner Stimme mitschwingen zu hören. Verzweiflung? Scarlett fahr mal einen Gang runter. Der Junge fehlt gerade mal einen Tag in der Schule. Vielleicht ist sein Handyakku auch einfach leer. Aber auch über Coles Gesicht scheint ein Schatten zu wandern. Er schüttelt den Kopf.

„Hab noch mehrmals versucht ihn anzurufen und ihn mit Nachrichten bombardiert. Kein Lebenszeichen.“ Ich weiß, dass das nur ein Spruch ist, trotzdem lässt es mich zusammenzucken. Die Vorstellung, dass sein Vater Jason etwas angetan haben könnte, lässt mich erschaudern.

„Ich gehe heute nach der Schule mal bei ihm vorbei.“, sage ich. Ich bin nicht auf seine Reaktion vorbereitet, deshalb falle ich fast von meinem Stuhl, als Cole laut „Nein!“ ruft.

„Was soll denn das jetzt?“, entgegne ich, weil ich seinen plötzlichen Ausbruch nicht verstehe. Cole rollt seinen Kopf in den Nacken und lässt seine Gelenke ein paar Mal knacken, bevor er antwortet. Er ist wohl ziemlich angespannt und versucht sich zu lockern.

„Er wird sich schon noch melden. Aber geh bitte auf keinen Fall bei ihm vorbei. Ich kann das echt nicht einschätzen, was da mit seinem Alten los ist.“ Ich verstehe nicht, was er meint. Gerade, wenn Jason Probleme mit seinem Vater hat, möchte ich herausfinden, was da los ist.

„Willst du ihn etwa ganz alleine lassen in dieser Situation?“, frage ich verständnislos.

„Das ist nicht das erste Mal, das so etwas passiert. Er ist bisher immer alleine damit fertig geworden. Außerdem wissen wir doch gar nicht, ob wirklich was nicht stimmt. Vielleicht hat der Junge auch einfach nur keinen Bock auf unsere Anrufe zu antworten.“ An der Art, wie Cole spricht, merke ich, dass er das, was er sagt, nicht einmal selber glaubt. Er weiß genau, dass da etwas gewaltig stinkt.

„Wenn du das so siehst ist das deine Sache, aber ich werde nachher vorbeigehen und nach dem Rechten sehen.“, sage und signalisiere ihm dadurch, dass ich nicht weiter diskutieren möchte. Jedoch mischt sich nun auch Lissy in unser Gespräch ein, die bisher nur stille Zuhörerin gewesen war.

„Scarlett, Cole hat Recht. Ich glaube, das ist eine Nummer zu groß für dich.“ Ihr Ernst? Eine Nummer zu groß für mich? Da kennt sie mich aber schlecht. Aber ich kann es ihr nicht verübeln. Ich habe ihr nie etwas über meine Vergangenheit erzählt. Wir kennen uns ja auch schließlich erst seit gut vier Tagen. Bei Jason war ich einmal kurz davor, aber dann habe ich doch einen Rückzieher gemacht. Das geht hier niemanden etwas an.

„Wenn du meinst.“, antworte ich, nur um sie und Cole zufrieden zu stellen. Ich werde natürlich nach der Schule zu Jason gehen. Wenn nicht mit ihrer Unterstützung, dann eben heimlich. Ist mir auch relativ egal.

Jasons Pov

Schon wieder höre ich mein Handy von unten klingeln. Und Dad fluchen. Er weiß nicht, wie man den Ton ausstellt. Aber ich werde mich hüten, nach unten zu gehen und es ihm zu zeigen. Genauso wird er niemals zu mir nach oben kommen und mich um Hilfe bitten. Nicht nach dem, was gestern vorgefallen ist. So klingelt mein Handy weiter. Und weiter.

Ich frage mich zum ungefähr hundertsten Mal, wie ich mein Wegbleiben aus der Schule dieses Mal erklären soll. Bei den Lehrern ist das kein Problem. Aber Cole wird Fragen stellen. Und Scarlett wahrscheinlich auch, jetzt wo ich sie in mein Lügengeflecht mit hineingezogen habe. Ich bin mir sicher, dass Cole sie heute in der Schule darauf angesprochen hat. Verdammt. Ich hätte das echt besser durchdenken müssen. Aber jetzt ist es zu spät. Und meine gebrochene Hand kann ich sowieso vor niemandem verbergen.

Ich habe beim Eishockeyspielen einen Puck abbekommen. So war es. Schade nur, dass ich seit Wochen nicht mehr Eishockeyspielen war.

Ich habe einen unheimlichen Durst, aber ich traue mich nicht nach unten solange mein Vater noch durch das Haus tigert. Ich muss bis zum späten Nachmittag warten, wenn er zur Arbeit aufbricht. Er hat Nachtschicht. Das weiß ich. Er hat immer freitags Nachtschicht. Früher hieß das für meine Mutter und mich, dass wir samstags keinen Mucks machen durften, damit er nicht beim Schlafen gestört wurde. Als ich noch kleiner war, kam mir das fast wie ein Spiel vor. Mum und ich schleichen durch das Haus und bleiben mit gestocktem Atem mitten in unserer Bewegung stehen, wenn wir meinen, ein Geräusch gemacht zu haben. Doch mit der Zeit habe ich erkannt, dass es alles andere als ein Spiel war.

Vor allem nicht für Mum.

Der Gedanke an sie versetzt mir einen Stich in die Magengegend. Als ich mir intuitiv mit der Hand an den Bauch fasse, lasse ich einen unterdrückten Schrei los. Ein stechender Schmerz fährt durch meine gebrochene Hand und jagt mir die Tränen in die Augen. Ich weiß in diesem Moment nicht, ob es Tränen des Schmerzes sind oder Tränen der Wut. Der Wut über meinen Vater. Er hat nicht das Recht, mir mein Leben so zu versauen. Er hat Mum schon zerstört. Er hat nicht das Recht dazu. Er darf das nicht. Doch meine Gedanken machen es auch nicht besser. Er wird nicht aufhören. Ihm ist egal, was ich denke. Für ihn ist seine Meinung die einzig richtige.

He Ain't All BadWo Geschichten leben. Entdecke jetzt