Part 32

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Warum ich Cole und Lissy gegenüber genauso geschwiegen habe, wie meiner Familie gegenüber? Warum ich nicht einfach alles gesagt und dem Schrecken damit ein Ende gesetzt habe? Warum ich selbst dann noch geschwiegen habe, als er zurückkehrte? Dorthin, wo ich mich bisher immer sicher gefühlt habe? Damals wusste ich es noch nicht. Doch jetzt weiß ich es und so sehr ich mir einrede, dass dieser Grund absurd ist, kann ich ihn immer noch nachvollziehen. Ich habe ihn aus demselben Grund geschützt, aus dem auch er seinen Vater geschützt hat. Aus demselben, aus dem Cole mich geschützt hat, aus dem sich Mum damals schützend vor mich gestellt hat, als ihr Peiniger auch mich verletzen wollte. Aus dem stärksten Grund von allen.

Scarletts Pov

Die ganze Zeit über habe ich den Gedanken an diesen Tag verdrängt. Dabei wusste ich ganz genau, dass er irgendwann kommen würde. Dieser Tag. Dieser Moment, der ganz speziell noch überhaupt nicht begonnen hat. Nach außen hin lasse ich mir nichts anmerken. Wie eigentlich in jeder Pause sitze ich zwischen Cole und Lissy auf der Mauer vor dem Schulgebäude. Jai steht vor Cole und die beiden unterhalten sich. Aus irgendeinem Grund setzt er sich nie zu uns auf die Mauer. Er steht nur immer. Und mit Lissy und mir spricht er auch nur das Nötigste. Wahrscheinlich ist er genervt davon, das Cole jetzt andere Freunde hat als nur ihn und…

Cole hat seine Hand hinter mir abgestützt, sodass sein Oberarm meinen Rücken leicht berührt. Lissy links neben mir plaudert munter vor sich hin und denkt anscheinend, dass ich ihr zuhöre. Das würde ich auch wirklich gerne. Ich wünsche mir nichts mehr, als diesen einen alles dominierenden Gedanken beiseite werfen und ein unwichtiges Gespräch mit Lissy führen zu können. Da es mir vor dem Gedanken, der immer wiederkehrt, fröstelt, rücke ich ein bisschen näher zu Cole, der darauf sofort reagiert und seinen Arm, den er bis vor kurzem noch hinter mir abgestützt hat, um meine Hüfte legt. Wir haben schon fast Dezember und dementsprechend kalt ist es auch. Ich trage Handschuhe und eine dicke Wollmütze, die Mum mir letzte Woche in der Mall gekauft hat. Das ist das einzig Positive. Mum und ich verstehen uns immer besser und ich gebe ihr auch keinen Anlass mehr dazu, misstrauisch zu sein oder mir irgendwelche Strafen geben zu müssen. Das ist nicht mehr nötig. Wenn ich abends ausgehe, dann am Wochenende und mit ihrer Erlaubnis. Sie kennt sowohl Lissy als auch Cole mittlerweile und mit anderen Leuten hänge ich hier sowieso nicht ab.

Das schwarze Auto fährt vor, als die Pause fast vorbei ist. In etwa zwei Minuten hätte es geklingelt, ich wäre in die Sicherheit meines Kursraums geflüchtet und dem Unvermeidbaren aus dem Weg gegangen.  Aber das Auto fährt nun einmal zwei Minuten vor Ende der Pause vor und als sich die Beifahrertür öffnet, möchte ich eigentlich wegsehen, weil ich genau weiß, wer aussteigen wird. Doch mein Blick verhaftet sich fest mit dem Auto und bleibt auf der Person hängen, von der erst ein Bein, dann das zweite und schließlich der gesamte Körper erscheint. Ich schlucke nervös und als Cole merkt, dass ich wieder anfange zu zittern, zieht er mich noch näher zu sich heran und reibt mir mit seiner Hand über die Seite.

Er schlägt die Tür hinter sich zu und dreht sich einmal um die eigene Achse, als wollte er das ganze Schulgelände in sich aufnehmen. Ich bilde mir ein, dass sein Blick an unserem kleinen Grüppchen länger als nötig hängen bleibt und drücke mich noch fester an Cole. Daran, dass sein Atem stockt, merke ich, dass auch er mittlerweile realisiert hat, warum ich mich so nervös verhalte.

„Fuck.“, kommt es flüsternd über seine Lippen und genau das ist auch alles, was ich denken kann.

Es ist zwei Monate her, dass ich nachts weinend im Bett lag und den Anruf von Officer Johnsson zögerlich entgegengenommen habe. Eine Woche lang konnte ich mich meinen Mitmenschen gegenüber nur im Pullover zeigen, da meine Arme zu viele eindeutige Beweise für seine Taten aufwiesen. Zwei Wochen lang habe ich Hausarrest bekommen, da ich in jener Nacht nicht zum verabredeten Zeitpunkt zu Hause gewesen bin. Eine Sekunde habe ich gebraucht um mir für Mum eine Lüge, was meine rot geschwollene Wange anging, auszudenken. Ich bin gegen einen Laternenpfahl gelaufen, als ich im Dunkeln nach Hause bin. Dass sie mir das abgekauft hat, ist absurd. Damals hat sie die gleiche Ausrede benutzt, als sie noch dachte, ich wüsste nicht, was er mit ihr macht. Damals… Ein anderes Leben.

(Wir müssen Mum schonen. Das hat der Arzt gesagt, der hier jeden zweiten Tag um halb vier vor der Tür steht und den ich immer bis zu Mums Zimmertür begleite. Auch Oma hat so etwas gesagt. Wir sollen sie auf andere Gedanken bringen. Sie ist auf dem Weg der Besserung, aber das Kartenhaus der Stabilität, das sie langsam wieder aufbaut, kann durch einen einzigen Windhauch umgestoßen werden. Eine einzige Bemerkung. Ein falscher Blick. Eine falsche Berührung durch einen Mann. Sie hat seitdem keinen Mann mehr mit nach Hause gebracht. Wir haben vermieden, irgendetwas zu sagen, dass das Kartenhaus umwerfen könnte.)

Doch auch jeder blaue Fleck schwillt irgendwann einmal ab und dann geht das Leben weiter und es ist so, als wäre nichts geschehen. Zumindest fast. Zwei Sachen haben sich verändert. Zum einen sind wir nur noch zu dritt auf der Mauer. Cole, Lissy und ich. Er hat sich zwei Monate lang nicht in der Schule blicken lassen. Und doch wusste ich immer, dass dieser Tag irgendwann einmal kommen würde. Ich kannte sogar die ganze Zeit über das Datum. Coles Mutter wusste über alles Bescheid. Sie ist mehr oder weniger dafür verantwortlich, dass er die letzten beiden Monate in einem betreuten Wohnheim für misshandelte Jugendliche verbracht hat und dort auch so schnell nicht wieder ausziehen wird. Auch, wenn sein Vater alles geleugnet hat, haben die Verletzungen auf seinem Körper für sich gesprochen. Zu viele Verstauchungen, wieder verheilte Brüche, Blutergüsse, Druckmale. Die Untersuchungen laufen und ich bin mir relativ sicher, dass er nie wieder zurück zu seinem Vater ziehen wird. Obwohl ich gehört habe, dass er sich geweigert hat, vor Gericht gegen ihn auszusagen. Er schützt ihn immer noch. Das erinnert mich an etwas und mein Magen zieht sich zusammen, wie so oft in letzter Zeit. Er ist nicht der einzige, der seinen Peiniger schützt. Noch nicht einmal Cole habe ich von der wahren Herkunft meiner Blutergüsse erzählt. Aber ich weiß, dass er mir nicht glaubt. Das ist die zweite Sache, die anders ist. Cole steht nicht mehr hinter ihm. Er ist nicht mehr sein Freund. Die beiden haben sich in diesen zwei Monaten kein einziges Mal getroffen. Cole hasst ihn jetzt. Wegen dem, was er mir angetan hat. Obwohl ich bestreite, dass Coles Vermutungen der Wahrheit entsprechen.

Sein Blick löst sich von unserer Gruppe und richtet sich nun auf den vorderen Eingang des Schulgebäudes. Er macht große und schnelle Schritte. Ich blicke ihm nach und merke, dass auch Cole, Lissy und Jai ihre Köpfe zu ihm hin wenden. Die Eingangstür öffnet sich. Er verschwindet.

„Scheiße. Das hatte ich vollkommen vergessen.“, sagt Cole und richtet seinen Blick nun auf mich.

„Beruhig dich Scarlett. Du bist so am zittern, als hätten wir minus 40 Grad. Ich werde nicht zulassen, dass er dich noch einmal anfasst. Ich werde noch nicht einmal zulassen, dass er sich dir nähert.“ Trotz meines labilen Zustands mache ich einen Versuch, ihn in Schutz zu nehmen.

„Mir ist einfach nur kalt. Und wie oft soll ich dir noch sagen, dass..“ Cole unterbricht mich, bevor ich meinen Satz zu Ende bringen kann.

„Hör endlich auf damit, Scarlett. Wir wissen beide, was wirklich passiert ist und du wirst es nicht schaffen mich umzustimmen. Egal, welche Märchen du dir ausdenkst, um dieses Schwein auch noch zu beschützen.“ Ich öffne schon wieder meinen Mund, um dem etwas entgegenzusetzen, als Lissy aufsteht und nach meiner Hand greift.

„Komm Scarlett. Der Unterricht fängt gleich an. Vielleicht tut Abwechslung ja gut.“ Sie lächelt mir zu, doch ich weiß, dass sie insgeheim auf Coles Seite steht. Sie hat in den letzten beiden Monaten oft genug versucht, mich dazu zu bringen, ihr die Wahrheit zu erzählen. Doch das kann ich nicht. Ich verstehe immer noch nicht warum, aber ich kann es nicht. Ich sage mir, dass es wegen Mum ist. Wenn sie davon erfahren würde, könnte sie sich nicht mehr aufrecht halten. Sie würde zusammenklappen wie ein Wäscheständer, der vom Wind umgeweht wird und sämtliche Beine zu sich hin zieht. Sie würde das nicht packen.

„Lissy hat Recht. Lasst uns nicht über ihn reden. Heute Abend lade ich euch beide zum Pizzaessen bei mir zu Hause ein. Was haltet ihr davon?“ Nun hat auch Cole eine lockere Mine aufgesetzt und ich weiß, dass er es nur gut meint, aber ich sehe trotzdem, wie falsch sein Lächeln ist.

„In Ordnung. Danke.“, antworte ich deshalb nur knapp, was sich meiner Meinung nach schon nach einem halben Eingeständnis anhört. Danke, dass du aufhörst, mich nach ihm zu fragen. Danke, dass du mich mit diesen schrecklichen Erinnerungen in Ruhe lässt. Danke, dass wir die Wahrheit einfach schweigend akzeptieren, ohne noch weiter darüber zu reden. All das schwingt in meinem gemurmelten „Danke“ mit und ich weiß, dass nicht nur ich das bemerke, sondern auch Cole klar ist, dass ich ihm gar nicht wirklich sagen muss, was passiert ist, um zuzugeben, dass er die ganze Zeit über Recht hatte. 

He Ain't All BadWo Geschichten leben. Entdecke jetzt