EPILOG

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Die Party war eine von vielen. Die erste. Vielleicht auch die zweite. Aber die erste richtige. Cole war dabei. Zuerst. Ich war lange Zeit mit ihm alleine. Auch andere Leute aus meiner Stufe waren da. Aber eigentlich waren nur zwei Personen da. Nur zwei. Ich erinnere mich nur an zwei. Da waren nur Jason und ich. Da war nur Jason. Und ich. Vielleicht…

Ein kurzes Aufatmen. Verdrängen. Nichts war geschehen. Jason meinte es nicht so. Vielleicht konnten wir ja alles irgendwie regeln. Vielleicht. Ich weiß nicht, ob ich daran wirklich glaubte. Ob ich mir vorstellte, dass jetzt alles gut würde. Aber wahrscheinlich war genau das mein größter Fehler. Ich habe gar nicht erst darüber nachgedacht. Ich habe die Angst ignoriert. Ich habe weitergemacht. Mich nicht von Jason entfernt. Bin ihm eher noch näher gekommen.

Ich habe mir oft immer wieder dieselben Fragen gestellt. Was wäre geschehen, wenn wir hingegangen wären. Wenn sie es gesehen hätte. Fragen gestellt hätte. Was hätte Jason getan, wenn Mr Miles nicht ihn sondern jemand anders mit mir weggeschickt hätte. Fragen über Fragen. Im Endeffekt kam es damals Schlag auf Schlag. Eine vermeidbare Situation nach der anderen. Aber ich habe mich treiben lassen. Er war so lieb. Er war nicht schlecht. Er war gut. Oder zumindest nicht nur schlecht. Ich habe ihm tatsächlich vertraut. Woher hätte ich auch wissen sollen, was später passieren würde?

Die ganze Situation war absurd. Damals kam es mir nicht so vor, aber heute finde ich es seltsam, dass ich das nicht bemerkt habe. Ich saß da mit ihm und kam mir vor wie seine Verbündete. Dabei hätte ich zur Krankenschwester gehen und endlich die Wahrheit sagen sollen. Doch zu diesem Zeitpunkt war ich dazu nicht in der Lage. Nicht, weil ich es nicht gewollt hätte. Nein. Schlicht und einfach, weil ich es für natürlich empfand, da mit ihm zu sitzen, als wären wir zwei Verbrecher, die gemeinsam gegen den Rest der Welt kämpfen müssen. Dabei standen wir im Grunde genommen auf unterschiedlichen Seiten.

Wie dumm ich doch war zu denken, ich könnte das mit Cole alleine in die Hand nehmen. Wie verdammt dumm und naiv ich war. Aber ich wusste es nicht besser. Im Nachhinein ist man immer schlauer. Ich hätte Mum alles erzählen müssen. Dann wäre es niemals so weit gekommen, dass ich hier sitze und das alles aufschreibe. Dann wären wir alle glücklich. Jason wäre irgendwo weit weg von seinem Vater und ihm und mir ginge es gut. Aber so ist es nicht. Ich habe Entscheidungen getroffen, die falsch waren und für die ich nur mich selbst verantwortlich machen kann.

Eine Lüge nach der anderen. Immer tiefer ging es. Ich habe nicht nachgedacht und war der Meinung, das Richtige zu tun. Ihm zu helfen. Dabei tat ich das falsche. Und brachte damit nicht nur ihn sondern auch mich in Gefahr.

Der Anfang kam überraschend. Dabei war es gar nicht wirklich der Anfang. Nicht richtig. Schon vorher gab es genügend Situationen, die mich dazu hätten bringen müssen, mich von ihm fernzuhalten. Andere einzuweihen. Doch jetzt denke ich, dass genau dieser Moment in der Hütte der ausschlaggebende war. Ich war bereits zu weit zu ihm vorgedrungen, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen. Also war es doch irgendwie der Anfang. Man könnte sagen, es war der Anfang vom Ende, als ich das Schluchzen, das ich hörte, nicht als mein eigenes identifizieren konnte.

Das scheinbare Ende kam so plötzlich, dass ich die Gefahr, die darin gelodert hat, nicht wahrgenommen habe. Überhaupt habe ich die Gefahr, die von ihm ausging, falsch eingeschätzt. Völlig falsch. Doch würde ich sagen, dass ich es spätestens dann, als er mich verletzt wie ich war alleine im Wald zurückgelassen hat, hätte merken müssen, wäre das eine große Lüge. Ich hätte es weitaus früher realisieren sollen. Doch spätestens jetzt, wo er mich so übel zugerichtet hatte, hätte ich meine Mutter einweihen müssen. Oder mir anderweitig Hilfe suchen. Mit seiner Einlieferung ins Krankenhaus schien jedoch erst einmal alles vorbei zu sein. Er würde Hilfe bekommen. Coles Mutter hatte seinen Vater angezeigt. Alles würde gut werden. Das waren meine Gedanken damals. Dumme Gedanken. Dumme dumme dumme Gedanken. Dummes kleines Mädchen. Sieh nur, was du damit angerichtet hast.

Warum ich Cole und Lissy gegenüber genauso geschwiegen habe, wie meiner Familie gegenüber? Warum ich nicht einfach alles gesagt und dem Schrecken damit ein Ende gesetzt habe? Warum ich selbst dann noch geschwiegen habe, als er zurückkehrte? Dorthin, wo ich mich bisher immer sicher gefühlt habe? Damals wusste ich es noch nicht. Doch jetzt weiß ich es und so sehr ich mir einrede, dass dieser Grund absurd ist, kann ich ihn immer noch nachvollziehen. Ich habe ihn aus demselben Grund geschützt, aus dem auch er seinen Vater geschützt hat. Aus demselben, aus dem Cole mich geschützt hat, aus dem sich Mum damals schützend vor mich gestellt hat, als ihr Peiniger auch mich verletzen wollte. Aus dem stärksten Grund von allen.

Nach einer kurzen Pause des Durchatmens kam er wieder. Trotzdem schien nicht wirklich eine Gefahr von ihm auszugehen. Er war eben wieder da. Ging seine Wege. Und ich ging meine. Das dachte ich zumindest am Anfang. Bis es dann doch anders kam.

Die ganze Sache zu verdrängen war nicht die beste Idee.

Er hatte mich gerettet. Welche Gefahr sollte denn von jemandem ausgehen, der mich rettet? Keine? Gar keine? Falsch. So viel mehr, als erwartet. Obwohl ich es eigentlich hätte wissen müssen nach dem Abend in der Hütte im Wald.

Warum habe ich ihm vertraut nach all dem, was zwischen uns geschehen ist? Warum bin ich ihm wortlos hinterher zurück in dieses Haus, anstatt nach Hilfe zu schreien und dann zur Polizei zu rennen?

Wenn Liebe stärker ist, als Vernunft, ist das schon schlimm genug. Aber, wenn sie größer ist, als die stärkste Angst, wird sie gefährlich. Ich habe den Fehler gemacht, sie über mich bestimmen zu lassen. Ihm die Kontrolle über mein Leben in die Hände zu geben. Hände, die nicht wussten, was sie mit ihren Taten anrichteten.

Gedanken sind eine Sache, aber geschriebene Worte eine andere. Das hat Stacy, meine Therapeutin schon an meinem ersten Tag hier in der Klinik zu mir gesagt. Deshalb habe ich angefangen zusätzlich, zu den gesprochenen Worten, die ich ihr in unseren täglichen Sitzungen schenke, das hier zu schreiben. Ich weiß nicht, ob ich es jemals jemandem zum Lesen geben werde. Es wird lange dauern, bis ich mich einer anderen Person, die nicht meine Mutter, oder meine Schwester ist, wieder öffnen kann. Vielleicht Monate. Vielleicht Jahre. Vielleicht wird es Kayla sein, weil sie mich heulend auf dem Wohnzimmerboden in ihrer Wohnung gefunden und sofort Krankenwagen und Polizei gerufen hat. Vielleicht aber auch nicht, weil ihr Anblick zu viele Erinnerungen an ihn heraufbeschwört. Vielleicht wird es Cole sein, der immer öfter zu Besucht kommt, aber auch nicht zu oft, weil Stacy das verbietet. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Im Moment habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, für die wichtigste Person in meinem Leben zu sorgen und sie langsam wieder ins Leben zurückzuholen. Mich selbst.

Ich war jedoch nicht die einzige Person, die vor sechs Monaten weinend in dieser Wohnung gekauert hat. Jemand anderes saß weinend auf seinem Bett, weil seine lebendige Seite ihn davon abgehalten hat, mich totzuschlagen. Weil diese lebendige Seite doch noch irgendwo in ihm geschlummert hat. Sich im letzten Moment freigekämpft und die Kontrolle zurückerobert hat. Er saß in seinem Zimmer und weinte. Vielleicht wegen seinem Vater. Vielleicht wegen sich selbst. Vielleicht wegen mir. Auf jeden Fall, weil er verzweifelt war. Zu verzweifelt, um einen Weg hinaus zu sehen. Hinaus aus dem Teufelskreis in dem er gefangen war. Ein halbes Jahr ist es her, dass Jasons lebendige Seite nach der Packung Schlaftabletten gegriffen und zu viele geschluckt hat, um einfach nur zu schlafen.

He Ain't All BadWo Geschichten leben. Entdecke jetzt