Wenn Liebe stärker ist, als Vernunft, ist das schon schlimm genug. Aber, wenn sie größer ist, als die stärkste Angst, wird sie gefährlich. Ich habe den Fehler gemacht, sie über mich bestimmen zu lassen. Ihm die Kontrolle über mein Leben in die Hände zu geben. Hände, die nicht wussten, was sie mit ihren Taten anrichteten.
Scarletts Pov
Drei Wochen ist die Party her, auf der ich nicht sein wollte. Zwei Wochen und sechs Tage ist es her, dass ich morgens nach dem Aufstehen die dunklen Spuren von Jasons Fingerabdrücken auf meiner Schulter im Spiegel entdeckt und sanft mit meiner Hand darüber gestrichen habe. Zwanzig Minuten ist es her, dass Jason seine Wohnungstür aufgeschlossen und mich eingelassen hat. Dass Lisa mich in eine unheimlich feste Umarmung gezogen und Kayla mir ein trockenes „Hi“ geschenkt hat. Jetzt sitze ich mit den beiden Mädchen am Küchentisch und wir warten auf Jason, der noch unter die Dusche gesprungen ist, bevor er sich zu uns an den Tisch begeben und mit uns Abendessen wird.
„Wie war dein Tag, Scar?“, fragt Lisa und wirft Kayla einen vorwurfsvollen Blick zu, die dabei ist, sich eine Zigarette zu drehen.
„Keine Angst. Ich geh nachher auf den Balkon.“, murmelt diese und wendet sich wieder dem Tabakbeutel vor ihr auf dem Tisch zu.
„Nicht viel passiert. Außer, dass Lissy immer noch nicht mit mir redet und Cole den hundertsten Anlauf gemacht hat, sich bei mir einzuschleimen. Bin genervt wie immer.“ Ich greife nach dem Weinglas, das vor mir auf dem Tisch steht und nehme einen großen Schluck. Man hätte denken können, dass drei Jugendliche, die im betreuten Wohnen zusammen leben, allerhöchstens ein paar Dosen Bier im Kühlschrank hätten. Aber auch, wenn sie sich die meiste Zeit über streiten, sind sich Lisa und Kayla einig darüber, dass zu jedem Abendessen Wein gehört.
„Und das alles nur, weil du mit Jase zusammen bist?“, fragt sie zum gefühlt tausendsten Mal diese Woche. Scar. Jase. Lisa hat die Angewohnheit, sich für jeden einen Spitznamen auszudenken. Nur Kayla nennt sie bei ihrem vollen Namen.
„Weißt du doch.“, gebe ich zurück und spüre plötzlich, dass jemand von hinten seine Arme um meinen Hals legt und dann seinen Kopf an meinen drückt. Ich schließe die Augen und atme seinen Geruch ein. Dann gibt er mir einen Kuss auf die Wange und setzt sich auf den Stuhl neben mir.
„Das ist bitte alles, was ich heute in dieser Küche zu sehen bekomme. Was ihr in deinem Zimmer macht, Jason, ist mir egal, aber nicht in meiner Küche.“ Kayla zeigt mir mal wieder unverschlüsselt, dass es ihr gegen den Strich geht, dass ich nun schon den fünften Abend in Folge bei Jason zu Abend esse und auch hier übernachten werde.
„Eifersüchtig?“, sage ich nur und schenke ihr ein Fake-Lächeln. Als Antwort verdreht sie die Augen und erhebt sich von ihrem Stuhl.
„Klar. Immer.“, lacht sie, greift nach der frisch gedrehten Kippe, verlässt die Küche und tritt hinaus auf den Balkon.
Wenn Mum die Küche mitten beim Abendessen verlässt, ist das kein gutes Zeichen. Dann folgen meistens mehrere Tage, an denen sie im Bett bleibt. Höchstens aufsteht, um auf Toilette zu gehen, oder sich ein Glas Wasser und ein paar Aspirin zu holen. Tage, an denen Oma wieder bei uns einzieht und uns zur Vorschule oder in den Kindergarten fährt. Er hieß Steve. Bewusst denke ich in der Vergangenheit von ihm. Denn er ist weg. Hinter Gittern. Darf sich uns nicht mehr nähern. Josey. Mir. Mum. Dabei hat er Josey nie angerührt. Und auch mich eigentlich nicht. Aber wir mussten es miterleben. Mussten Mums blaue Flecken sehen. Mussten nachts auf der Rückbank von Taxis sitzen, die ins nahegelegene Krankenhaus fuhren. Mussten Mums Lügen anhören. Mussten mit ihr bangen und doch irgendwie hoffen, dass die Ärzte ihr irgendwann nicht mehr glauben würden. Doch es gab ein Ende. Ich war das Ende. Als er nur sie geschlagen hat, war ihre Liebe zu ihm und die Scham über sich selbst zu stark, um etwas zu unternehmen. Doch als sie an diesem Sommernachmittag nach Hause gekommen ist und gerade noch rechtzeitig verhindern konnte, dass er auch Josey schlägt, hat das einen Hebel in Bewegung gesetzt, der nicht mehr gestoppt werden konnte. Als sie mich zusammengerollt auf dem Küchenboden gefunden hat. Ihn angeschrien hat. Selber ein paar Hiebe eingesteckt hat. Es irgendwie zum Telefon geschafft und die Polizei gerufen hat. Seit dem ist Mum verändert, aber doch ist alles besser. Steve ist weg. Auch, wenn sie manchmal auf den Balkon geht, oder tagelang ihr Bett nicht verlässt, weiß ich, dass alles wieder gut werden wird.
„Scarlett? Welche Pizza möchtest du?“, höre ich Jasons leicht genervte Stimme wie durch eine dicke Schicht Wasser hindurch.
„Ehm… Käse.“, antworte ich und nehme noch einen großen Schluck von meinem Wein. Das ist mir lange nicht mehr passiert. Früher war es oft so, dass mich nur ein winziges Detail an damals erinnern musste, damit ich in Erinnerungen abschweifte. Aber seit einigen Jahren schon ist das nicht mehr vorgekommen. Nur jetzt, als Kayla auf den Balkon getreten ist, wurde irgendetwas in mir ausgelöst. Mum, die auf einen anderen Balkon in einer anderen Wohnung tritt.
„Alles ok bei dir?“, fragt Lisa, die mir eine halbe Käsepizza auf meinen Teller schiebt. Ich schüttele lächelnd meinen Kopf und nehme den Teller wieder entgegen. „Musste grade nur an was denken.“, sage ich gespielt munter und spüre plötzlich Jasons Hand auf meinem Bein. Dort, wo er sie hinlegt, spüre ich ein leichtes Ziehen, weil dort gestern Abend seine Faust gelandet ist.
„Schatz, wo warst du denn wieder so lange?“, werde ich im Hauseingang von meiner Mutter begrüßt. Schnell verziehe ich mein Gesicht zu einer schuldbewussten Grimasse.
„Tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe, aber Lisa hat bei diesem Kochwettbewerb für Anfänger mitgemacht und gefragt, ob ich dabei sein möchte. Sie hat sogar den zweiten Platz gemacht.“ Aus irgendeinem Grund hat Mum nichts gegen Lisa und Kayla. Vielleicht, weil sie nicht weiß, dass die beiden mit Jason zusammen leben und dass ich sie nicht, so wie ich es ihr erzählt habe, in der Bibliothek kennengelernt habe. Deshalb ist es auch kein Problem für mich fast jede Nacht bei Jason zu verbringen, ohne dass sie etwas davon erfährt.
„Schon in Ordnung. Ruf aber nächstes Mal bitte an, wenn es später wird, als wir abgemacht haben. Hast du auf dem Weg nach Hause noch was gekauft?“, fragt sie und deutet auf die kleine Plastiktüte, die ich fest umklammert in meiner linken Hand halte, weil meine rechte zu weh tut, um irgendetwas damit zu tun, nachdem ich vorhin mit Lisa zurück in die Wohnung gekommen und zu Jason ins Zimmer gegangen bin, der mich ähnlich wie meine Mutter einige Stunden vorher erwartet hat. Starke Männerhände sind durchaus in der Lage, schwache Frauenhände zu zerquetschen.
„Ja. Mascara. Die wird immer so schnell leer.“, gebe ich zurück und laufe dann an ihr vorbei die Treppe hinauf in mein Zimmer. Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen habe, erlaube ich mir, das Gesicht vor Schmerz zu verziehen. Dann setze ich mich aufs Bett, das frisch gemacht ist, da ich die letzten Nächte alle bei Jason verbracht habe. Ich greife in die schmale Plastiktüte hinein und ziehe das schmerzlindernde Gel gegen Prellungen und Quetschungen heraus. Dann rolle ich den rechten Ärmel meines übergroßen Pullovers nach oben und verbiete mir, länger als eine Sekunde auf die Blutergüsse an meinem Unterarm oder meine leicht blau verfärbte Hand zu blicken. Schnell öffne ich die Tube und reibe erst die Hand und dann den Arm ein. Dann greife ich nach meinem Handy und schreibe mit dem Daumen meiner linken Hand. Nachdem ich die Nachricht abgeschickt habe, verstaue ich die Tube mitsamt Tüte in der obersten Schublade meiner Nachttischkommode und lasse mich auf den Rücken auf mein Bett fallen. Schließe meine müden Augen. Schlafe seit Tagen zum ersten Mal ohne Angst ein.
Jasons Pov
Mein Handy vibriert. Wird aber auch Zeit. Ich dachte fast schon, sie hat mich vergessen. Das wäre weder gut für mich noch für sie. Sie darf keine unserer Abmachungen vergessen. Ich blicke auf den Display.
Bin gut zu Hause angekommen. Jetzt alleine in meinem Zimmer.
Ich liebe dich.
Alles so, wie es sein soll. Sie darf sich nicht mit Cole und auch nicht mit Lissy treffen. Schlimm genug, dass sie heute fast den ganzen Tag mit Lisa verbracht hat. Aber dafür hat sie schon bekommen, was sie verdient. Denn sie gehört mir. Nur mir.
Scarletts Pov
Als ich am nächsten Morgen von meinem Wecker aus einem viel zu tiefen Schlaf gerissen werde, kann ich nur eines denken.
Er ist nicht schlecht. Nicht nur..
DU LIEST GERADE
He Ain't All Bad
Fanfiction„Wer ist der da drüben?“, frage ich und deute quer durch den Gang auf einen tättowierten Jungen, der mir schon seit einigen Minuten aufgefallen ist. Ich merke, wie sich ein verträumter Ausdruck auf Lissys Gesicht breit macht. "Das ist Jason. Jason...