33.

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Blair's Sicht

Weißt Du, was Liebe ist?
Liebe ist wie ein Gedicht,
Ein Gedicht - vom Frühling geschrieben,
vom Sommer diktiert,
vom Herbst gelesen,
vom Winter erträumt.

Liebe ist wie ein Tautropfen,
Ein Tautropfen - von der Luft bewegt,
von der Sonne erwärmt,
vom Blatt abperlend
von der Erde gierig getrunken.

Liebe ist wie der Wind,
Wind - der sanft Deine Wangen streift,
der heftig Dir das Haar zerzaust,
der trocknet Dir Deine feuchten Augen,
der leise durch die Äste weht.

Liebe - ist mehr, als nur ein Wort,
mehr, als nur ein Gedanke,
mehr, als nur ein Gefühl.

Liebe ist das, was ich für Dich empfinde.

Das ist, was ich auf einen winzigen handgeschriebenen Zettel lese, der von innen an das Schaufenster eines kleinen, unscheinbaren Blumenladens am Rande der Kreuzung vor der Innenstadt geklebt wurde.
Ich stehe mit Sicherheit schon gut zwanzig Minuten vor diesem Schaufenster und lese mir im Kopf das Gedicht vor. Ich lese es dreimal, fünfmal und so oft, bis ich aufhöre zu zählen. Und jedes Mal klingt es wieder so schön und gefühlvoll, wie beim ersten Mal. Es fesselt mich und jedes geschriebene Wort ist mit so viel Emotionen erdacht, dass es was in mir bewegt. Jeder Vers erweckt ein Bild in meinem Kopf und jedes Gefühl, das ich damit verbinde, wirkt so schrecklich vertraut, dass es mich nicht mehr los lässt.

"Entschuldigung-"
Ich zucke zusammen und sehe zu meiner rechten Seite.
Eine junge Frau, ungefähr in den jungen Dreißigern, schätze ich, steht in der offenen Tür des Blumengeschäftes und hat ihre Hände in den Taschen ihrer mintgrünen Schürze gesteckt.
"Kann ich dir helfen?"

Ihre sanfte Stimme passt perfekt zu dem Erscheinungsbild einer Floristin. Sie hat ein warmes Lächeln und ihre dunkelblonden Haare sind süß einem französischen Zopf nach hinten gebunden. An ihren Ohrläppchen hängen knallrote Knopfohrringe. Sie betonen ihre tausend Sommersprossen auf der spitzen Nase.

"Tut mir leid... ich...", stammel ich vor mich hin und deute auf das Gedicht.

"Gefällt es dir?", fragt sie und lächelt. "Es fällt nicht vielen Leuten auf, die hier vorbeilaufen."

"Es ist wunderschön. Haben Sie das geschrieben?"

Die junge Frau schüttelt den Kopf und grinst. "Nein. Ich habe es einmal geschenkt bekommen."

"Wirklich?"

Sie nickt und kommt auf mich zu. Mir fällt auf, wie klein die Floristin ist. Fast zwei Köpfe kleiner als ich.
"Aber das ist schon Jahre her. Ich war damals noch jung."
Ein freundliches Lachen entspringt ihrer Kehle. "...und unerfahren. Er war Künstler. Musiker, um genau zu sein. Hat Texte geschrieben. Und ich war so dumm und dachte, ich wäre etwas besonderes."

Ich nicke verständnisvoll den Kopf.
Gleichzeitig frage ich mich, wieso sie mir davon erzählt.

"Und trotz dem ganzen Schmerz, war ich, dank ihm, endlich bereit zu leben."
Die Floristin hat kaum den Satz ausgesprochen, bevor sie wieder im Leben verschwindet:
"Vielleicht war es das wert."

***

Der Holzboden schabt unter den Sohlen meiner Ballettschuhe, als ich mit wackeligen Beinen einen Schritt vor den anderen setze und mich dabei immer wieder um die eigene Achse drehe. Mein Bauch grummelt, meine Kehle ist wie zugeschnürt und mir wird schlecht.
Draußen entnehme ich nur gedämpft die Klänge eines berühmten Klassikstücks, zu dem Alex gerade den Tanzlehrern und Madame Guiot vortanzt.
Ich habe kein Lampenfieber. Das habe ich nie. Dafür bin ich mir zu sicher auf der Bühne. Das soll nicht eingebildet klingen, aber Ballett ist das Einzige, was ich wirklich gut kann. Wenn ich auf der Bühne tanze, fühle ich mich sicher und wohl. Als würde ich schon seit Anfang an damit vertraut sein. Und genau das bin ich ja. Ich bin ein Wunderkind, wie es alle sagen.
Ein Naturtalent.
Dabei sollen das bloß alle denken.
In Wirklichkeit musste ich jahrelang hart trainieren, um dort zu stehen, wo ich jetzt gerade bin.
Meine Kindheit wurde dazu erzogen.

Once upon a fuckboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt