Once upon a fuckboy

41.

Emotionale Bedürftigkeit ist nicht zu verwechseln mit emotionalen Bedürfnissen. Wir alle sehnen uns nach Liebe und haben das Bedürfnis nach Anerkennung und Zuneigung. Wenn diese allerdings ausschließlich von außen akzeptiert werden können und dein Wohlbefinden nicht nur beeinflussen, sondern bestimmen, dann sprechen wir von Bedürftigkeit.

Es ist schwer einen Menschen zu lieben, der diese Bedürftigkeit nicht stillen kann. Du weisst, er ist nicht gut für dich und trotzdem siehst du in diesem Menschen das Beste, was dir je wiederfahren ist. Du steckst in einem inneren Konflikt zwischen Ärger und Wut auf dich selbst, dass dich die Person trotz ihrer Scheußlichkeit und Herzlosigkeit nicht loslässt und auf der anderen Seite steht die reale Tatsache, dass du nie die Chance gegeben hast, sie loszulassen.
Es ist eine Tragödie. Eine Tragödie mit dir selbst.

"Blair. Beweg dich.", reisst meine Mutter mich mit scharfen Ton aus meinen Gedanken.

Wir sitzen im Auto. Die Regentropfen prallen gegen die Fensterscheibe und alles draussen verschwimmt zu gigantischen Pfützen.

Ich nicke meiner Mutter zu und schnalle mich langsam ab. Meine Hände fest um die Tasche umklammert, steige ich aus dem Auto und jetzt trifft der Regen auch mich. Er nässt meine Haare, meine Klamotten, meine Haut.
Ehrfürchtig blicke ich geradeaus auf das graue, sonst so vertraute Gebäude. Es wirkt anders auf mich. Fremder.

"Geh. Sie warten schon auf dich. Ruf mich an, wenn du hier fertig bist.", sagt Mum noch, bevor sie die Beifahrertür aus der ich gestiegen bin von innen zuschlägt, den Motor startet und dann im Affenzahn losfährt.

Eine Weile stehe ich noch an der selben Stelle und starre das Auto meiner Mutter hinterher. Scheiße.
Mein Blick gleitet wieder auf das Gebäude. Jetzt gibt es wohl kein zurück mehr.

Ich gehe langsam los und als ich die schwere Tür der Tanzhalle öffne und hereintrete, überkommt mich mit dem altvertrauten Duft des frischen Paketts auch die herzzerreißende Sehnsucht wieder. Die Sehnsucht nach meiner geliebten Leidenschaft.

Madame Guiot steht bereits im Raum und unterhält sich interessiert mit einem Mann im bordeauxroten Rollkragenpullover.
Als ich die Halle betrete und meine nassen Sneaker auf dem Holzparkett quietschen, drehen sich beide herum.

"Blairrr!" Meine alte Ballettlehrerin scheint überrascht, fast schon irritiert, über meine Ankunft.
Mit ausgestreckten Armen kommt sie mir entgegen gelaufen und unarmt mich innig.
"Ma chérie, wie ewisch ist es herr?"

Zwei Wochen?

Ich blicke zu dem Kerl hinter ihr, der mich mit äußerst kritischem Blick begutachtet.

"Das ist Monsieur Dubois. Er kommt aus Paris. Extra 'ergeflogen wegen meinem besonderen Stück."

Ich nicke ihm zu. "Hallo, ich bin Blair."

"Je sais.", antwortet das rote Ampelhütchen und setzt sich auf die Bank an der Wand.

Madame Guiot wirkt leicht nervös.
"Ecoutez, ma chérie. Dieser Mann ist stellvertretender Direktor eines der einflussreischsten Ballet-Collèges in ganz Paris! C'est trop importante pour toi!"

Was will so einer denn bitte gerade von mir?

"Je t'ai vu danser. Tu a du potenciel, ma fille.", spricht Dubois und lächelt dabei.

Hilfesuchend schaue ich zu Madame Guiot, die nur aufgeregt nickt. "Er ist ganz begeistert von deinem Tanzstil und kennt deine Mutter. Keine Sorge, sie 'at uns schon von deinem Ansturm an Lampenfieber bei dem Vortanzen erzählt."

Lampenfieber?

"C'est normal, Blair.", beruhigt sie mich und nimmt meine Hand. "Sowas 'atte selbst isch damals auch."

Ich hatte kein Lampenfieber.
Ich lief damals davon, weil ich Jason im Publikum gesehen hatte.
Mir schnürt sich der Hals zu, wenn ich wieder daran denke. Wenn ich an ihn denke.

"Wir 'aben beschlossen, dass du maintenant Sondertraining bekommst, für die Rolle der Odette. Und nach der Aufführung fliegst du dann direkt zum Vortanzen nach Paris. Wenn alles gut läuft, du regelmäßisch kommst und eine manifique Aufführung 'inlegst, wird Monsier Dubois bei den Professeurs ein gutes Wort für disch einlegen."

Mein Kopf rattert.
Die Menge an Informationen ist kaum zu verarbeiten und einzuordnen.

"Et bon? Was sagst du, ma cherié?"

Mir bleibt nichts anderes übrig, als langsam zu nicken. Es fühlt sich so an, als würde sich mein Kopf wie von selbst bewegen. Mir ist klar, dass diese Chance und dieses Nicken mein Leben verändern werden.
Meine Zustimmung bringt Madame Guiot aus dem Häuschen. Euphorisch klatscht sie in die Hände. „Super! Isch bin begeistert, Blair!"

Missmutig versenke ich meine Hände in meine Jeansshorttaschen, während Madame Guiot und der Franzosenfutzi aufgeregt beginnen, sich über die Planung meiner Zukunft zu unterhalten.

***

Zuhause ist alles still. Es ist keiner zuhause.

Oben werfe ich meine durchnässten Sneaker in die Ecke meines Zimmers.
Sobald ich im Bad bin, verriegele ich die Tür und sinke vor der Toilette auf die Knie. Ich klappe den Deckel hoch. Der Schmerz brennt in meinem Bauch, und ich muss ihn aus mir rausbekommen. Dringend. Ich beuge den Kopf vor, ramme mir einen Finger in den Hals und zwinge alles aus meinem Körper. Meine Schultern krampfen, während ich meine Finger tief in die Kehle stecke und das Erbrochene hochkommt.
Tränen steigen mir in die Augen, als ich mich zurücklehne und den Finger aus dem Mund nehme. Ich lehne mich an die kalte Kachelwand und mein Kopf sackt nach hinten. Heiße Tränen laufen mir über die Wangen. Meine Brust krampft zusammen, während ich angestrengt atme.

Die Luft quält sich durch meine schmerzenden Lungen, wärend ich mich dazu zwinge zu atmen. Alles schmerzt höllisch.

Mein Handy vibriert auf dem Kachelboden.

Ich muss dich sehen.

Kurz darauf eine weitere Nachricht von ihm.

Triff mich in einer halben Stunde vor der Schule.

Ich sitze neben meinem Erbrochenen mit glühender Kehle, schmerzender Brust und laufender Tränen alleine im Badezimmer neben dem Klo gekauert.
Noch vor fünf Minuten hätte es mir beschissener nicht gehen können und diese beiden Nachrichten erscheinen genau jetzt wie Balsam für die Seele.
Ich verspüre in diesem einen Moment nur eins:

Bedingungslose, hoffnungslose emotionale Bedürftigkeit.