43

1.2K 34 28
                                    

Der Scheinwerfer blendet meine Augen. So sehe ich wenigstens die hundert neugierigen Gesichter nicht, die mich anblicken. Ich stehe neben Alex auf dem blanken Pakettboden der erhobenen Bühne.
Mir ist speiübel. Kurz überlege ich, ob ich einfach einen Schwächeanfall vortäuschen könnte und mich auf den Boden fallen lasse, aber das wäre mir dann doch ein Tick zu dramatisch.
Dass ich jetzt sterbe, ist leider nicht mehr abzuwenden. Mein Körper verflüssigt sich vom Kopf abwärts, meine Zunge liegt wie Blitzbeton im Mund und lässt sich nicht bewegen.
Als die ersten Takte des Orchesters erklingen und die Melodie der Tschaikowskykomposition beginnt, fangen meine Füße und Hände wie selbst von zu bewegen. Wie von selbst erinnert sich mein Körper schneller an die Tanzschritte, als mein Kopf es tut.
Immer wieder hasche ich einen Blick zu Alex, die ihn jedoch kein Mal erwiedert.
Eine halbe Ewigkeit später ist die Melodie zu Ende und meine Seele kehrt wieder in meinen Körper zurück. Der große Applaus - jemand pfeift sogar auf den Fingern - ist dann doch ganz schön. Als die Lichter sich leicht dämmen, erblicke ich ganz hinten in der letzten Reihe ein dünnes Mädchen, das bloß still dort steht und mich ansieht.
Als ich genauer hinschaue, meine ich ihr Gesicht erkennen zu können. Ist das...

...Rebecca?

Doch ehe ich reagieren kann, ist sie auch wieder spurlos verschwunden.

***

Wie benommen, laufe ich von der Bühne und versuche meine Gedanken und Gefühle zu ordnen. Erst als Zac neben mir steht, schrecke ich aus meiner Trance.
„Guter Auftritt.", sagt er, zieht mich zu sich ran und drückt mir einen Kuss auf die Stirn.

Die Sache zwischen Zac und mir ist kompliziert. Wir sind einmal gemeinsam ausgegangen und er hat sich auf dem Schulflur mit Jason geprügelt, weil dieser mich angegangen hat und seitdem weicht er mir nicht mehr von der Seite. Jeden Tag holt er mich von zuhause ab und bringt mich zur Schule und manchmal legt er auf dem Schulhof den Arm um mich. Ich weiß nicht, wie man diese Beziehung jetzt passend bezeichnen könnte, jedoch habe ich mich auch noch nicht näher damit auseinandergesetzt. Geschweige denn, den Kopf dafür gehabt. Außerdem sind meine Eltern begeistert von den häufigen Besuchen und Autofahrten ihres Wunschschwiegersohns. Meine Mutter denkt schätzungsweise ohnehin, wir wären schon längst ein Paar und... hey, wenn es sie zufrieden stellt und sie mich dann nicht weiter nervt, dann lasse ich sie in dem Glauben.

„Blair! Maus, das war wunderbar!" Meine Mutter kommt mit ausgebreiteten Armen und strahlendem Grinsen auf mich zu und drückt mich an sich.

„Ja, das war wirklich toll.", stimmt mein Vater ihr zu.

Hinter ihm kommt Aiden geschlurft. „Wollen wir jetzt was essen fahren? Die Pizzeria hat nicht ewig auf." Hektisch sieht er sich um, fast, als wenn er wem aus dem Weg gehen möchte.

„Ich... sag eben noch den Mädels und Madame Guiot Bescheid, dass wir fahren und komme dann nach, in Ordnung?"

„In Ordnung, wir warten im Auto auf dich.", sagt Zac und flüstert mir danach ins Ohr. „Du warst mit Abstand die Schönste da oben.", woraufhin ich ihm ein dankbares Lächeln schenke.

Als meine Familie und Zac im Ausgang verschwunden sind, gehe ich noch einmal hinter die Bühne, wo sich ein paar Mädchen der Balletgruppe umziehen. Madame Guiot ist wild am telefonieren.
Alex sitzt auf einer Bank und ist dabei, sich ihre schwarzen Sneaker zu schnüren.
Als sie ihren Kopf hebt und mich sieht, verrollt sie entnervt ihre Augen. Stürmisch packt Alex ihre Tasche und will an mir vorbeilaufen, doch ich halte sie am Unterarm fest. Wütend reisst sie sich los und fährt herum. „Was willst du?"
Ihre trägen Augenringe ziehen ihr hübsches Gesicht in einen düsteren Ton. Trotz unserer gelungenen Winteraufführungspremiere, sieht sie unfassbar niedergeschlagen aus.

„Alex, können wir bitte reden?"

„Da gibt es nichts zu bereden, lass mich in Ruhe." Kopfschüttelnd dreht sie sich um und läuft weiter.

„Alex, bitte warte." Energisch hole ich sie ein und versperre ihr den Weg.

„Was willst du hören, Blair?"

„Ich will wissen, warum du nicht mehr mit mir sprichst, du meine Anrufe ignorierst und mir seit zwei Wochen aus dem Weg gehst!"

Alexs Augen formen sich zu gefährlichen Schlitzen. Sie macht einen Schritt auf mich zu und ich spüre, wie ihre Stimme bebt, als sie spricht. „Du willst wissen, wieso ich nicht mehr mit dir spreche? Ist das dein Ernst? Du weißt doch anscheinend selbst am Besten, wann es besser ist zu schweigen, oder nicht?"

Mir schnürt es die Kehle zu. „Alex, ich weiß doch selbst nicht, wo sie sind", flüstere ich mit flehender Stimme.

„Bullshit." Ihre Stimme kippt und ich sehe, wie sie mit den Tränen kämpft. „Du wusstest ganz genau, wie sehr ich Phil geliebt habe. Ich habe dir ALLES anvertraut! Und jetzt höre ich seit Wochen kein Wort mehr von ihm oder seinem Bruder und du willst mir erzählen du weißt nicht, was hier abgeht, wenn du Jason noch vor einer Wochen getroffen hast?" Sie schluckt schwer und dabei rollt ihr eine Träne die Wange herunter. „Was ist passiert, Blair? Was verheimlicht ihr mir?"

Mein Magen wird schrecklich flau und es ist, als würde mein Herz in tausend Teile zerspringen.
Es bricht mir das Herz, meine beste Freundin so zu sehen, doch ich habe leider keine Wahl.
„Ich... ich kann es dir nicht sagen, Alex. Es tut mir so leid.", wimmere ich und jetzt laufen auch bei mir die Tränen.

„Du bist so ein falsches Stück Scheiße, Blair."

Es trifft mich wie ein Tritt in die Magengrube.
Sie will an mir vorbeilaufen, doch ich bin wieder schneller und stelle mir vor sie.
Schluchzend packe ich Alex am Handgelenk. „Bitte hör mir zu. Ich kann dir nicht sagen, wieso die beiden verschwunden sind, aber ich weiß selbst nicht wo sie hin sind. Das musst du mir glauben, bitte!"

Alex atmet langsam aus und ihr Blick ist eiskalt.
„Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, dass Phil mich die ganze Zeit über verarscht hat und du ihn jetzt deckst, damit er sich in Ruhe aus dem Staub machen kann. Ich glaube, du lügst mich an. Das glaube ich."
Sie lacht rau und mit einer Spur von Spott.
„Und wofür? Für seinen kleinen, abgefuckten Bruder, der dich für nichts mehr gehalten hat, als seine Bettgeschichte. Du bist so nervtötend naiv. Mach dir ruhig weiter was vor und tu so, als wärst du so unfassbar scheinheilig mit deinem Quarterback an der Seite und deinem weißen Tutu im Scheinwerferlicht. Aber vergiss nicht, dass du dich schon öfter hast durchnehmen lassen als der Rest der Schule. Der einzige Unterschied zu einer Nutte ist nur noch der, dass sie wenigstens Geld dafür nim-"

Das darauffolgende Klatschen hallt durch den ganzen Raum.

Ich begreife erst selbst nicht, was ich getan habe, mein Kopf reimt sich die Bilder nacheinander selbst zusammen.
Alex hält sich ihre Wange, ihre Haare verdecken ihr Gesicht. Wie vom Blitz erschlagen, stehen wir beide eine gefühlte Ewigkeit nur reglos da, bis sie sich irgendwann sammelt und stürmisch davonläuft.
Ich schaffe es nicht mich zu bewegen oder noch ein Wort zu sagen. Wie eingefroren bleibe ich an genau derselben Stelle stehen und starre nur entgeistert auf meine Hand.

Scheiße.
Was habe ich getan?

Once upon a fuckboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt