3.

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3. Kapitel

Am verfrühten Nachmittag sitze ich, wie gewohnt, allein in einer engen Umkleidekabine der Tanzschule und binde mir die Schnüre meiner Spitzenschuhe.

Jeden Montag, Dienstag, Mittwoch und Donnerstag nehme ich hier seit zehn Jahren gemeinsam mit einigen anderen Mädchen Ballettunterricht.
Im National Arts Etiénne.
Meine Eltern haben darauf bestanden, dass ich ausgerechnet hier trainiere, da ich nur so die langerhaltende Tradition unserer Familie weiterführen kann.
Meine Urur-Großmutter hatte hier bereits gelernt Ballett zu tanzen und so folgten es ihr meine
Ur-Großmutter, meine Großmutter und meine Mutter selbst.
Das Talent fürs Balletttanzen liegt unserer Familie quasi im Blut und so ist es bei meiner Geburt fast schon festgelegt, dass jede weibliche Generation der Mathewsen-Familie zum 17. Lebensjahr die Hauptrolle der Odette in der Wintervorstellung Schwanensee zugeteilt wird.
Ob sie nun will, oder nicht.
Ich bin eigentlich ganz zufrieden damit. Fast hätte ich nämlich mit zwölf Jahren in ein festes Ballettinternat gemusst. Nicht ausdenken, wie es mir da gegangen wäre.

Plötzlich höre ich das unverkennbare Geräusch einer Sporttasche, die auf den Boden kracht und eine weiche Stimme mit Südstaatenakzent.
"Blair, du alte Socke! Hast dich gar nicht verändert."

Ich spähe um die Ecke und sehe Alex, die im Türrahmen posiert und versucht wie Miss Alabama auszusehen, aber eher einem Zahnstocher in Caprihose und Flip-flops ähnelt. Einen verdammt roten Zahnstocher.
Sie lächelt. "Hast du mich vermisst?"

Ich hab meine Freundin wirklich vermisst, aber enorme Angst, sie zu umarmen.
"Was ist denn mit dir passiert?"

Alex verdreht die Augen.
"Schlaf nie an einem Pool in Florida ein."
Sie hätte es eigentlich besser wissen müssen. Schließlich ist Alex das Genie schlechthin und im Alter von neun Jahren hatte sie bei den Leistungstests der Drittklässler die besten Ergebnisse aller Zeiten erreicht.
Alexandra, so heißt sie mit vollem Namen, geht nicht auf dieselbe Schule wie ich, sondern auf eine Privathighschool für Hochbegabte.
Wir kennen uns schon ewig, da ihre und meine Eltern im selben Freundeskreis sind.
Alex ist eine genauso gute Freundin für mich, wie Quinn und Grace auch. Da sollte es keine Vergleiche geben.
Am meisten beeindruckt es mich jedoch, dass sie vierzehn verschiedene Sprachen sprechen kann. Ohne Diealekt!

In diesem Moment ist es mir egal, wie sonnenverbrandt ihr Körper ist- ich muss sie einfach umarmen.

"Uahhhh! Jede-Berührung-wie-ein-Messerstich.", quengelt Alex in Robotorstimme und verzieht schmerzverzehrt das Gesicht, als ich sie fester an mich ran drücke.
Ich lache und lasse sie schnell wieder los. "Tut mir leid. Ich konnte nicht anders."

Doch Alex scheint längst darüber hinweg zu sein. Sie grinst übers ganze Gesicht.
Ihre dunkelgrünen Augen blitzen vor Aufregung.
"Weißt du, worauf ich gerade richtig Lust habe?"

"Nein...", sage ich zögernd.
Alex hat offenbar eine Idee und es ist klar, wie Klosbrühe, dass Alex Ideen meistens kein gutes Ende nehmen.

"Lass uns wieder hoch aufs Dach!", schlägt sie eifrig vor.

"Muss das sein?", maule ich. Wenn ich ehrlich bin, fand ich es beim letzten Mal schon nicht besonders lustig.

Alex und ich haben hin und wieder vor dem Tanzunterricht ein Ritual.
Wir laufen aufs Dach unserer Tanzschule, trinken Dosenbier und reden über Gott und die Welt.
Alex liebt es nämlich, verbotene Dinge zu tun und den Nervenkitzel dabei zu spüren. Ich nicht.
Letztes Mal wurden wir vom Hausmeister erwischt und es gab fast Hausverbot für uns.
Und Hausverbot kann ich mir definitiv nicht leisten. Meine Eltern würden mir den Kopf abreißen.

Once upon a fuckboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt