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Einige Stunden später saß ich mit Abby auf dem Sofa, Liz und Harry waren oben, und heulte mir die Augen aus dem Kopf. Auch wenn das Gespräch mit Gavin geholfen hatte, es war doch etwas ganz anderes mit der besten Freundin darüber zu reden. Sie hielt mich tröstend im Arm und versuchte mich aufzumuntern. Es funktionierte eher weniger gut. „Weißt du noch, als du ihn das erste Mal getroffen hast?", fragte ich schluchzend und putzte mir die Nase. Ich war mittlerweile von den Taschentüchern meines Großvaters auf alte Handtücher umgestiegen. „Klar weiß ich das noch.", meinte sie und man hörte ihr Lächeln aus ihrer Stimme heraus. „Er war ein echter Gentleman an dem Tag. Ich war so stolz auf dich, dass du ihn dir geangelt hast." Sie legte ihren Kopf an meine Schulter. „Weißt du Charlie, jedes Paar hat irgendwann mal einen Streit. Das ist nicht euer erster, aber der erste richtig große Streit. Er hat doch schon immer so empfindlich darauf reagiert, wenn ihn jemand wegen seiner Hände benachteiligt hat und er wollte Lizzy doch nur schützen.", erklärte sie weiter. „Ja das weiß ich doch, aber wollte einfach hingehen und diesen Jungen verprügeln. Das ist doch nicht in Ordnung und außerdem wäre er dafür bestimmt ins Gefängnis gekommen. Er denkt doch nie nach wenn es um die ,Freak-Sache' geht." „Er ist eben auch nur ein Mann. Die denken halt nicht so viel." „Und ich hab ihm gesagt ich wolle ihn nie wieder sehen. Was wenn er mich jetzt nie wieder sehen will? Wenn er sich verraten fühlt?", wieder naseputzen. „Das tut er bestimmt nicht. So wie ich ihn kenne macht er sich bestimmt Vorwürfe ohne Ende. Du weißt doch wie er ist, er gibt sich die Schuld für Dinge, für die er überhaupt nichts kann und jetzt ist er es tatsächlich gewesen und... vermutlich geht es ihm noch schlimmer als dir." Jetzt brach ich in einem Heulkrampf zusammen. Ich hatte ihn zurückgewiesen und ihm das Herz gebrochen. Wie konnte ich das nur tun? Abby seufzte tief. „So war das doch gar nicht gemeint. Es ist nicht deine Schuld. Er hat dich angegriffen und du hast dementsprechend reagiert. Und das ist auch gut so. Ich wär vermutlich vor Angst ohnmächtig geworden." Wir schwiegen eine Weile bis ich mich wieder etwas beruhigt hatte. „Soll ich dir noch einen Tee machen?", fragte sie mich, doch ich schüttelte den Kopf. „Du musst bald nach Hause. Sonst machen sich deine Eltern zu viele Sorgen und kommen noch her.", murmelte ich. Sie rieb mir den Arm und gab mir einen kleinen Kuss auf die Wange. Dann seufzte sie wieder. „Ja das stimmt wohl. Und du kommst sicher klar?", sie sah mich fragend an. Ich nickte leicht. Irgendwie musste ich damit klar kommen, schließlich musste Lizzy morgen in die Schule und ich musste zur Arbeit. Sie stand auf und holte Harry von oben. Ich versuchte mir mit dem verrotzten Handtuch die Tränen wegzuwischen und ging dann zur Tür. „Du Abby...", begann ich, sie drehte sich zu mir um, „Wir essen morgen nicht im Diner, sonst reicht das Geld bis Ende des Monats nicht." Sie nickte und wir umarmten uns noch ein letztes Mal. Sie und Harry stiegen in ihren kleinen Käfer, den sie sich vor ein paar Wochen endlich hatte leisten können, und fuhren los. Ich stand noch immer im Türrahmen und dachte nach. Ich blickte auf den dunklen Hof hinaus und plötzlich überkam mich eine gewaltige Angst.Ich knallte die Tür zu und verschloss alles, doch kaum war ich fertig bog ein rostiger, blauer Pickup-Truck auf den Hof. Gavin. Ich hatte schon gedacht er käme nicht mehr. Ich wartete bis er klopfte und schloss dann auf. Als er mein verheultes Gesicht sah wurde sein Blick besorgt. „Wie geht es dir?", fragte er. „Komm rein.", war alles was ich sagen konnte und ich zog ihn in den Flur. Danach schloss ich die Tür wieder sorgfältig ab. Diese Angst war immer noch da. „Was ist los? Ist da draußen jemand?", fragte er verwirrt und deutete auf die Tür. Ich schüttelte energisch den Kopf. „Nein, ich... ich hab nur Angst da wäre jemand.", erklärte ich. „O-okay... Wie geht es dir denn?", fragte er erneut. „Etwas besser. Ich hatte 'ne lange Unterhaltung mit meiner Freundin." „Ah, das ist gut. Und was meinst du? Wirst du zu ihm hingehen?" Ich nickte. „Ich denke mir bleibt nichts anderes übrig.", seufzte ich. Eigentlich wollte ich nicht, aber wenn ich ihn wieder haben wollte musste ich es tun. Gavin nickte. „Das ist gut. Ist sonst alles in Ordnung?" Wieder nickte ich. „Soll ich... soll ich dann wieder fahren?", fragte er. „Ja, danke dass du vorbeigekommen bist.", sagte ich und wir lächelten uns an, auch wenn sich mein Lächeln nicht ehrlich anfühlte. Ich öffnete wieder die Tür, damit er gehen konnte, doch bei dem Anblick des Hofes kam wieder diese Angst. Was war nur los mit mir? Ich knallte die Tür wieder zu. „Stimmt was nicht?", Gavin sah mich verwundert an. „Ich weiß nicht, ich hab nur so 'ne Angst. Ich weiß nicht warum." Ich sah vermutlich genauso verwirrt aus wie er. „Vor was hast du Angst?" Ich überlegte lange. Vor was hatte ich Angst?
Soweit war es eine ganz normale Nacht gewesen. Ich hatte Stunden darauf gewartet, dass meine Eltern zu mir kommen würden und war letztendlich weinend eingeschlafen. Es war mitten in der Nacht und ich wachte auf. Irgendetwas hatte mich geweckt. Ich lauschte. Von unten kamen Geräusche. War das Großvater? Konnte er auch nicht schlafen? Müde stand ich auf und öffnete so leise es ging die Schlafzimmertür. Da war eindeutig jemand unten. Es konnte nur Großvater sein. Möglichst leise schlich ich nach unten. Ich wollte wissen was er mitten in der Nacht unten trieb. Er war nicht mehr ganz bei Verstand, was wenn er sich wehtat? Doch unten brannte kein Licht, es sah eher so aus, als würde jemand mit einer Taschenlampe durchs Haus laufen. Vorsichtig schlich ich um die Ecke und da sah ich ihn. Ein fremder Mann, der unsere Küchenschränke ausräumte. Gerade wollte ich ihn zur Rede stellen, da wurde ich von hinten gepackt. Mir wurde der Mund zugehalten und so erstickten meine Schreie. Der Mann blickte erschrocken auf. „Du Dummkopf, kannst du nicht leiser sein?", fragte die Person, die mich festhielt. Der andere zuckte nur mit den Schultern. Jetzt wurde ich gegen eine Wand geschleudert. Jemand schlug mir ins Gesicht und trat mir in den Bauch. Ich bekam keine Luft mehr. Der Mann setzte seinen Fuß auf mein Gesicht und drückte leicht nach unten. „Wir waren nie hier, hörst du?" Ich reagierte nicht, meine Kehle war wie zugeschnürt. Er drückte fester zu. „Hast du mich verstanden?", fragte er jetzt bedrohlicher. Ich schaffte es zu nicken und er ließ los. Ich hörte wie die Tür auf und zu ging und dann war es leise. Sie waren einfach bei uns eingebrochen. Einfach so, und ich hatte nichts tun können. Ich rang nach Luft. Mein Gesicht schmerzte und mir war übel von dem Tritt. Ich konnte nichts tun.
Jetzt erinnerte ich mich wieder. Hier war eingebrochen worden. Ich war noch so jung gewesen, das war kurz nach dem Unfall. An dem Tag hatte ich mir vorgenommen nie wieder schutzlos zu sein. Doch genau das war ich gewesen. Als Jimmy mich gegen die Wand gedrückt hatte war ich schutzlos gewesen. Und so war die Angst wiedergekehrt. Ich sah Gavin an und er beobachtete mich, unsicher was er tun sollte. „Ich habe Angst schutzlos zu sein.", sagte ich. „Was?" „Schutzlos. Ich habe immer versucht mich zu wehren, aber das war nicht möglich. Er hat mich festgehalten und ich war so geschockt, dass ich mich nicht wehren konnte. Ich habe Angst davor, dass so etwas wieder passiert." Gavin überlegte und nickte dann verstehend. „Aber du bist nicht schutzlos. Du bist Charlie, das stärkste und schlagfertigste Mädchen das ich kenne. Du brauchst keine Angst zu haben. Nicht vor Jimmy oder vor sonst irgendwem.", stellte er klar und sah mir mit einem überzeugtem Blick in die Augen. Er hatte Recht. Ich brauchte keine Angst zu haben. Jimmy hatte mich überrascht, das würde mir nicht nochmal passieren. Entschlossen öffnete ich die Tür und ging hinaus. Gavin folgte mir. Ich betrachtete den Hof und er kam mir nicht mehr so gefährlich vor. Ich drehte mich zu meinem Kollegen um. „Danke Gavin.", ich lächelte ihn an und wir umarmten uns. Ich war froh ihn als Freund gewonnen zu haben. „Und du bist dir sicher, dass du klar kommst?", er wollte sich nochmals versichern. Ich grinste ihn frech an und boxte ihm gegen den Arm. Er lachte und stieg dann in sein Auto. Etwas besser gelaunt ging ich rein und schloss erneut die Tür. Das letzte Mal für diesen Abend. Ich ging hoch wo Lizzy schon auf mich wartete. Morgen würde ich zur Freakshow fahren müssen. Jetzt hatte ich wieder dieses nervöse Kribbeln im Bauch. Ich würde das schon irgendwie hinkriegen. Hoffte ich.

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