Lona stand einfach nur da und starrte ihren Zwillingsbruder an. Er konnte nicht da sein, er war schließlich tot. War es schon so weit mit ihr, dass sie anfing Geister zu sehen? Sie erwartete schon halb, dass er anfing sich vor ihren Augen in Luft aufzulösen, oder dass sie gleich aufwachen würde und feststellen musste, dass das alles nun ein wunderschöner Traum war, doch nichts dergleichen geschah.
Als sie begriff dass Lorion real war, wurde sie wütend. Langsam aber sicher baute sich eine alles zerfressende Wut auf. Wie konnte er es bloß wagen? 50 Jahre lang hatte sie geglaubt dass er tot war. 50 Jahre lang hatte sie um ihn getrauert und 50 Jahre lang war sie mitten in der Nacht schreiend aufgewacht, weil sie davon geträumt hatte wie die Orks ihn zerrissen und seine Gliedmaßen gefressen hatten und sie war machtlos und konnte ihm nicht helfen. Und nun stand er einfach so vor ihr, genau so als wäre er von einer kurzen Reise zurückgekehrt und als wäre nichts gewesen.
Mit anfangs beherrschten Schritten ging Lona um den Tisch herum, doch mit jedem Schritt wurde sie schneller, bis sie auf ihn zu rannte. Als sie bei ihm angekommen war, schlug sie ihm mit ihren Fäusten gegen die Brust, immer und immer wieder. Doch er wehrte sich nicht. Lorion ließ sie einfach machen, sagte nichts, und genau das machte sie umso wütender.
„Du bist ein Idiot! Ein elender Idiot! 50 Jahre, 50 Jahre warst du weg und nun tauchst du hier auf als wäre nichts gewesen! Ich habe um dich getrauert, Jahrelang, und du... du... du...", stammelte Lona. Dann fing sie an ihn mit Schimpfwörtern zu belegen in allen Sprachen die sie kannte, eins schlimmer als das andere. Die Zwerge im Saal wurden blass. Sie hatten selten so ein großen Spektrum an Schimpfwörtern gehört, noch dazu aus dem Mund einer Frau, und was sie da von sich gab ließ selbst jeden hartgesottenen Mann blass werden.
Lorion ließ seine Schwester einfach machen. Er konnte verstehen das sie so reagierte, er hatte nichts anderes erwartet. Als ihr nach einer wahren Flut an Beleidigungen drohten die Schimpfwörter auszugehen, packte Lorion sie an den Schultern und hielt sie in einem Klammergriff fest, sodass sie sich nicht mehr bewegen konnte.
„Lass mich gefälligst los!", rief sie und fing an sich zu sträuben, sodass Lorion Mühe hatte sie an Ort und Stelle zu halten. Einige Male hätte sie sich fast aus seinem Griff gewunden und nur der Tatsache das er größer und dadurch auch kräftiger war, war es zu verdanken das dies nicht geschah. Auch wenn sie jetzt ein Kleid trug, was sie früher als für den Alltag völlig unbrauchbar genannt hatte, und wie eine Lady aussah, hatte sie nichts von ihrem Feuer und ihrer Kraft verloren.
Mit einem Mal veränderte sich Lonas ganze Haltung, es schien als hätte sie aufgegeben. Sie hörte auf sich zu wehren, sackte in sich zusammen und fing an lautlos zu weinen. In kleinen Sturzbächen lief ihr das salzige Nass über die Wangen.
Sie weinen zu sehen tat Lorion in der Seele weh. Er konnte sie noch nie weinen sehen. Sein Herz wurde dann jedes Mal schwer und er wollte dann immer ihr ihr zusammen weinen. Er zog sie an sich und umarmte sie ganz fest, so wie er es früher immer gemacht hatte.
Auch Lona schlang die Arme fest um ihren Bruder. Sie krallte ihre Hände in seine Tunika um wirklich sicher zu gehen, dass er es wirklich war, vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter und weinte.
„Ich hab dich vermisst, so sehr vermisst! Lass mich nie wieder alleine", schluchzte sie an seiner Schulter.
„Ich hab dich auch vermisst, jeden einzigen Moment. Ich lasse dich niemals mehr alleine. Niemals, niemals, niemals", flüsterte Lorion in ihre Haare.
Lange standen die Geschwister einfach so da und hielten sich in den Armen. Allmählich versiegten Lonas Tränen, doch beide machten immer noch keine Anstalten sich zu bewegen. Viel zu sehr hatten sie die Nähe des jeweils anderen vermisst.
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Gwathwen - Schattenmädchen (HdR)
Hayran KurguLonas Leben wurde an dem Tag zerstört, als sie die Nachricht vom Tod ihres Bruders Lorion bekam. Danach war nichts mehr so wie vorher. Als sie ihr Leben endlich wieder im Griff hat, stolperte plötzlich ein Zwerg in ihr Leben. Doch ist er der Richtig...