fünfunddreißig.

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Elizabeth || Louis stürmt ohne anzuklopfen in mein Büro und schiebt mir einen Umschlag entgegen, bevor er sich atemlos auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch fallen lässt. Seine Haare sehen aus, als wäre er den ganzen Weg von seinem Haus hierher gerannt, so durcheinandergewirbelt, wie sie sind.

Ich lege die Unterlagen beiseite, in die ich bisher vertieft gewesen bin und nehme den Umschlag in die Hand.

Er hat ein offizielles Aussehen und strahlt große Seriosität aus. Auch ohne ihn zu öffnen, ist allen bereits klar, dass sich ein wichtiges Dokument in seinem inneren befindet.

Ich will ihm den Brief übergeben, damit er dies übernehmen kann, doch er schüttelt bloß den Kopf und nickt mir auffordernd zu. „Ich kann das einfach nicht, Liz. Du musst ihn öffnen."

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das darf", entgegne ich zögerlich. „Breche ich damit nicht das Briefgeheimnis? Ich meine, immerhin ist dieser Umschlag an dich adressiert."

Zögernd drehe ich den Brief und sehe, dass Louis ihn noch nicht geöffnet hat.

„Ist es das, was ich denke?", frage ich leise.

Louis klopft ungeduldig auf das Holz und zuckt mit den Achseln. „Das wissen wir wohl erst, wenn der Brief geöffnet ist, oder?"

Das ist das letzte, was ich heute gebrauchen kann. Das heutige Datum bereitet mir ohnehin schon genügend Kummer, da brauche ich nicht noch diese Bombe auf meinem Schreibtisch.

Ich hätte mich heute Morgen doch einfach wie geplant in meinen Bettlacken verkriechen und krank machen sollen. Doch Isabel hat mich auffordernd aus dem Bett gezerrt und zur Arbeit geschickt. Ihrer Meinung nach bringt es überhaupt nichts, Trübsal zu blasen und Ablenkung würde mir angeblich guttun. Ich habe nicht protestiert, weil ich ohnehin verloren hätte und bin arbeiten gegangen. Gerade bereue ich die Entscheidung.

Louis hat trotz der Umstände ein kleines, amüsiertes Grinsen auf den Lippen. „Du schläfst mit meinem besten Freund. Denkst du wirklich, dass ich dich wegen eines gebrochenen Briefgeheimnisses verklagen würde?", merkt er trocken an. „Die Umstände sprechen also eindeutig für dich."

„Wahrscheinlich", murmele ich zustimmend und sehe ihn noch einmal prüfend an, bevor er mich erneut auffordert, den Brief endlich zu aufzureißen.

Ich nehme meinen Brieföffner aus einem der Schubladen des Schreibtisches und ziehe diesen dann behutsam durch den Umschlag. Währenddessen rauft Louis sich die Haare und klopft angespannt mit seinen Fingern auf das Holz meines Tisches, was mich unter normalen Umständen wahnsinnig gemacht hätte. Doch heute sehe ich einfach darüber hinweg.

Vorsichtig ziehe ich den Brief heraus und falte ihn auseinander. Ich will diesen Louis überreichen, doch dieser schüttelt abwehrend den Kopf.

„Les du ihn als erstes", fordert er mich auf, wobei seine Stimme seltsam dünn klingt. Der selbstsichere, ansonsten so unbeschwerte junge Mann, der er die meiste Zeit ist, ist gerade vollkommen in den Hintergrund gerückt.

Seufzend gleiten meine Augen über das Schreiben. Ich verfliege das anfängliche Geschnatter, was Herrn Tomlinson dafür dankt, dass er sich für den Test entschieden hat und auch die weiteren Floskeln. Schließlich bleibe ich bei den Worten hängen, die über Louis ganzes weiteres Leben entscheiden werden.

„Und? Was ist das Ergebnis?", erkundigt sich Louis nervös, als er mein Stocken bemerkt. Er wackelt auf dem Stuhl hin und her, während seine Finger umso schneller trommeln.

Ich atme tief durch. „Du bist der Vater", teile ich ihm dann mit. Kurz und schmerzlos, ohne großartig drum herum zu reden. Das würde das Ergebnis schließlich auch nicht ändern und ich habe die Ärzte meiner Mutter immer dafür gehasst, wenn sie nicht endlich zum Punkt gekommen sind. Die Wahrheit wurde durch viele Wörter auch nicht schöner.

Oblivion || h.s. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt