Kapitel 49

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***26. Oktober 2018***

Der nächste Morgen beginnt mit einem Kläffen von Cliff. Vorsichtig räkle ich mich im Bett und setze mich auf. Das Fenster steht einige Zentimeter offen und im Haus ist es eisig kalt. Ende September kein Wunder. Romans kleiner Hund, der mittlerweile des Öfteren bei uns in Deutschland wohnt, steht vor der Zimmertür und bellt laut. Sofort wühle ich mich aus den Laken und öffne ihm die Tür, bevor ich sie hinter ihm schliesse und wieder zurück zu Roman ins Bett schlüpfe. Schnell kuschle ich mich an ihn ran und wärme meine eiskalten Hände in seinen auf. Doch das lässt ihn nicht aus der Ruhe bringen.

Um zehn Uhr wird es mir zu bunt. Ich ziehe mir meine dicksten Schlabberklamotten an und mache mich auf den Weg in die Küche, wo es bereits zu und her geht wie im Bienenhaus. Romans Mutter kocht, sein Vater diskutiert lautstark mit Romans Bruder am Telefon, dieser ist im nahe gelegenen Einkaufszentrum Brötchen einkaufen und Cliff jagt bereits im Wohnzimmer einem Ball hinterher. Leise tapse ich in die Küche, wo ich Karin begrüsse. „Guten Morgen, gut geschlafen? Fit und munter?" Ich grinse. „Aber klar, die gute Schweizerluft ist wohltuend." Auch Romans Vater hebt den Daumen nach oben.

„Habt ihr was dagegen wenn ich kurz euer Bad benutze?", frage ich höflich. „Sarah, du gehörst zur Familie. Du bist hier genauso zuhause wie Roman auch, du kannst benutzen und essen was du willst, du kannst gehen wohin du willst.", meint seine Mutter lächelnd und drückt mir noch ein Frotteetuch in die Hand. „Damit kannst du dir das Gesicht waschen wenn du willst." Ich nicke, nehme den Lappen und verschwinde für zwanzig Minuten im Bad.

Als ich wieder auftauche liegt Roman unter der Wolldecke auf dem Sofa. Schnell düse ich zu ihm, hebe die Decke an und schlüpfe zu ihm. Er zieht mich an sich ran und schaut mich grinsend an. „Na du Faultier?" „Na du Siebenschläfer?", lache ich und gebe ihm einen Stups auf die Nase. Plötzlich macht Marco im Türrahmen komische Würgegeräusche. „Freunde, nehmt euch ein Zimmer, ja? Aber bitte keine Knutschereien oder sonst irgendwelche Aktivitäten in der Öffentlichkeit.", droht er mit erhobenem Zeigefinger. „Ey, ich sag das auch mal, wenn du wieder mit Alexia rumknutschst.", meldet sich Roman zu Wort. Kopfschüttelnd verschwindet Marco um die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen.

Romans Vater sitzt am Esstisch und lächelt uns an. Plötzlich ruft es aus der Küche. „Kinder, Essen ist fertig." Beinahe zeitgleich fliegt die Haustür mit Schwung auf und mit Marco kommt ein Schwall kalte Luft ins Haus. „Baah, schliess die Tür wieder.", motzt Roman und wickelt sich die Wolldecke etwas enger um die Schulter. Ich lache und schmeisse ihm ein Kissen an. Er grinst nur hämisch und packt mich, damit er mich von oben bis unten durchkitzeln kann. Irgendwie kann ich mich doch noch befreien und in die Küche flüchten, um dort Karin zu helfen, die die ganze Arbeit alleine tun musste.

Bevor wir uns an den Tisch setzen, hole ich Romans Betablocker aus meiner Handtasche und bereite ihm seine Morgenmedikamente vor. „Nicht mal das kann der Junge selber.", meint Romans Vater lachend und erntet dafür nur einen bösen Blick von Roman. Natürlich könnte er es selber, ich mach es nur gerne für ihn. Das Frühstück ist sehr lecker und am Esstisch ist die Stimmung offen und herzlich. Es wird gelacht, über ernste Themen diskutiert und dann wieder gelacht. Das finde ich ja gerade das Schöne, genau das macht eine Familie aus.

Nach dem Essen beschliesse ich, dass ich einen Spaziergang durch Münsingen unternehmen möchte. Das 13'000 Einwohnerdorf ist nämlich gar nicht mal so klein, zudem wunderschön. Roman und Marco schliessen sich meiner Idee sofort an und wollen auf dem Weg noch bei einem guten Freund vorbeischauen. Daniel, den ich während dem letzten Jahr auch kennenlernen durfte. Wir ziehen uns warm an und treten vors Haus. „Ich warte noch fünf Minuten auf Alexia, sie kommt auch gleich.", meint Marco gelassen und scharrt mit den Schuhen auf dem Asphalt. Die grosse Baustelle gleich auf der rechten Seite neben ihrem Haus scheint Familie Bürki nicht zu stören.

Cliff zerrt an der Leine, die um mein Handgelenk gebunden ist. Aber Roman pfeift ihn streng zurück. „Sonst bleibst du die nächste Woche hier und kommst nicht mit, Kleiner.", droht er ihm und zieht dabei die Augenbrauen streng hoch. Ich pruste los, sein Gesichtsausdruck ist nicht zum Aushalten. Angestrengt versucht er ein Pokerface aufzusetzen, doch es gelingt ihm nicht und wir kichern um die Wette. Zehn Minuten später sind wir komplett und ziehen unsere Runde durchs Dorf.


Wir laufen in Richtung der Aare, dem Fluss welcher durch Bern fliesst. Am Ufer machen wir kurz Halt. Roman zückt sein Handy und fotografiert den Fluss, um es anschliessend in seine Instagram Story zu stellen. Sein Bruder sitzt auf einem Stein am Wasser und knutscht mit Alexia. Ich lehne meinen Kopf an Romans Schulter.

„Roman?" „Was?" „Ich bin glücklich dass es dir wieder gut geht! Wirklich, ich dachte...", versuche ich meine Gefühle auszudrücken, doch die Tränen sind schneller. Roman drückt meinen Kopf gegen seine Brust und streicht mir über den Rücken. Ich lasse mich von ihm umarmen und lasse meinen Gefühlen freien Lauf. Cliff winselt zu unseren Füssen und wir lösen uns voneinander. Roman wischt mir die Tränen aus den Augen und räuspert sich. Dann knien wir zu Cliff auf den Boden und streicheln ihn.

Cliff hat wohl bemerkt dass etwas mit Roman nicht stimmt, denn in letzter Zeit ist er besonders anhänglich geworden. Ständig will er gestreichelt werden und alleine sein ist für ihn die Hölle geworden. Aber ich muss zugeben, auch ich bin nicht mehr gerne alleine zuhause, ich kann mir nicht vorstellen wie das ist wenn Roman wieder zu Auswärtsspielen fahren muss und ich alleine mit Cliff zuhause sein werde.

Ich werde ständig Angst um ihn haben müssen. Angst, dass er eines Tages nicht mehr vom Training oder vom Spiel nach Hause kommt. Angst, dass er sich zu sehr anstrengt und einen Rückfall erleidet. Oder einfach Angst, dass ihm etwas geschieht und er nicht mehr so ist wie jetzt. In den letzten Tagen bin ich mir bewusst geworden, was es bedeutet, zu leben und zu lieben. Und die Liebe, die ich von allen Seiten bekommen habe, bedeutet mir mehr als alles andere auf dieser Welt. Fussball ist nicht alles, das müssen viele noch lernen. Und wenn Fussball Romans Leben ist und immer sein wird, es zählt doch immer der Mensch hinter dem Ganzen. Ich geniesse einfach jede Sekunde, die ich mit jemandem verbringen kann, den ich mag. Denn es ist nicht selbstverständlich. Das Schicksal ist nicht wählerisch, es sucht sich den nächstbesten aus. Und es ist auch nicht immer gütig, es schlägt mal schlimm, mal harmloser zu. Und ich bin froh, dass ich noch viele Minuten mit Roman an meiner Seite verbringen kann. Dank dieser Wanderung habe ich ihn getroffen, kennen und lieben gelernt. Manchmal braucht es eben harte Zeiten, damit man bemerkt wer auch dann zu einem steht.

Ein Lächeln huscht über mein Gesicht und ich klammere mich erneut an Roman, der jetzt wohl hinten und vorne nichts mehr begreift. Erst bin ich tiefst traurig, dann wieder glücklich. Aber ich glaube auch er hat verstanden auf was es ankommt. Er musste mit mir das gleiche durchmachen wie ich mit ihm. Damals in Russland war mein Zustand auch nicht wirklich sehr gut.

Aber zurück zur Realität, zum hier und jetzt. Noch etwa eine halbe Stunde bleiben wir am selben Ort. Dann beginnt es wieder zu regnen und wir machen uns schleunigst auf den Weg nach Hause, denn Roman darf sich unter keinen Umständen erkälten. Eilig laufen wir zurück und kommen patschnass zuhause an, wo Romans Mutter uns gleich aufs Sofa schickt und uns dampfende Teetassen bringt.

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Ach, die Liebe. Die zwei sind ganz schön verliebt.


Übrigens ist das wirklich der Steg, der in Münsingen bei der "Badi" über die Aare führt. Keine 100 Meter weiter ist der Fussballplatz des FC Münsingen. Nur so zur Orientierungshilfe.

Wenn ihr Glück habt, kommt sogar noch ein drittes Kapitel. Kommt darauf an, was ich heute Abend noch so mache.

T.

47 degrees north (Roman Bürki FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt