Ich habe das Gefühl, es noch nie in meinem Leben so eilig gehabt zu haben und tozdem so unfassbar langsam voran zu kommen. Seid wann sind die Straßen Abends dermaßen mit unfähigen Autofahrern überfüllt? Die scheinen alle zu viel Zeit zu haben, und ich bin einige Male ernsthaft versucht, die Autofahrer vor mir anzuhupen. Als ich endlich ankomme, ist kaum noch eine Menschenseele zu sehen, nur aus den Fenstern strahlt das kalte Licht der Neonröhren. Es sind Siluetten zu erkennen. Mir ist es selten so schwer gefallen, mein schützendes Auto zu verlassen und mich buchstäblich in die Höhle des Löwen zu wagen. Die Flügeltürer schwingen auf, sie sehen aus wie von einem sehr noblem Hotel. Ein Hotel, das mancher nie wieder Lebend verlassen wird. Der Gedanke macht mich traurig. Es riecht nach Desinfektionsmittel, ein Geruch, der mir so bekannt vor kommt. Die Dame an der Rezeption sieht mich erstaunt an. Ja, ich weiß das wir 22.46 Uhr haben und die Besucherzeit vorbei ist, aber das ist mir jetzt gerade egal. Mit schnellen Schritten gehe ich den Flur entlang, der irgentwie etwas deprimierdendes hat, mit den weißen Wänden und dem grünen Lenoleumboden, bis ich vor den Aufzugtüren stehe. Ich drücke auf den Knopf nach oben, er leuchtet rot auf. Ich ziehe mir die dünne Strickjacke enger um die Schultern, mir wird von einem Moment auf den anderen kalt. Die Türen öffnen sich und ich betrete den Aufzug. In den Spiegeln kann ich sehen, dass ich ganz blass bin. Ich schlucke zweimal schwer, die Tür öffnet sich mit einem Zischen. Bevor ich die endlosen Flure der oberen Stockwerke entlang gehe, schwöre ich mir selber, egal, was passiert, jetzt keine Vergleiche mit Lily zu machen. Ich weiß das Selina das jetzt nicht brauchen kann. Ich gehe an der Kinderstation vorbei, es ist lautes Geschrei zu hören. Kinder die zu ihren Eltern wollen. Okay, noch zwei Flure, ignoriere das einfach, Liz. ,,Entschuldigen Sie, kann ich ihnen helfen?" Ein junger Mann steht vor mir, mit freundlicher Miene, die Hände vor der Brust verschränkt. In seinen Augen sehe ich den Unmut über meinen, in seiner Welt, nächtlichen Besuch auf seiner Station. Auf seinem Namensschild ist Dr. M. A. U. Katz zu lesen. Mit so einem Namen ist man ja sein Leben lang bestraft. Er räuspert sich. ,,Nein, ich weiß, wo ich hin muss." Denke ich zumindest, füge ich in Gedanken hinzu. Er fixiert mich immernoch und scheint zu überlegen, wie er mich hier schnellstmöglich wieder hinaus bekommt. Als würde ich seine Patienten stören! ,,Liz!" Leon springt von dem unbequem aussehenden Wartezimmerstuhl mit den seltsam gemusterte Polstern auf und läuft auf mich zu. ,,Endlich!" Er sieht erleichtert aus, als er mich wieder los lässt. ,,Sie gehören zu Miss Selina?" Der Oberarzt sieht immer noch skeptisch aus. Miss Selina. Sie hätte sich über diese Bezeichnung sicherlich lustig gemacht, wäre sie in einem Zustand gewesen, in dem ihr das auch nur ansatzweise möglich gewesen wäre. ,,Ja, genau." ,,Aha." Erwiedert er leicht pikiert. Und dann dreht er sich einfach weg und geht davon, mit wallendem Kittel. ,,Der ist gar nicht seltsam drauf oder sowas." murmelt jemand. Ich zucke zusammen, unterbewusst, unkontroliert, ungeplant. Was macht der den hier? Ich werfe Leon in Gedanken schon vor, warum er mich denn nicht gewarnt hat. Er errät wohl anhand meines Blickes, wie überrascht ich bin, ihn hier zu sehen. Obwohl entsetzt wohl das bessere Wort wäre. ,,Auch Hi, Liz." Und er zieht mich, völlig verdutzt, in seine Arme. ,,Hi." Bekomme ich gerade noch so raus. Super. Ich sehe zwische den zwei Jungs hin und her, sehe Leon an. ,,Ja, er war eben der erste der da war." Er zuckt entschuldiged mit den Schultern. Ich nicke, dann setzten wir uns, endlich. Ich lande in der Mitte. Rechts Elias, links Leon. Fünfzehn Minuten vergehen und keiner sagt ein Wort. Die schmutzig weiße Uhr tickt gleichmäßig vor sich hin. Es ist das einzige Geräusch, das zu vernehmen ist. Ich überlege gerade, ob es unhöflich wäre, eifach mal aufzustehen und die Dame, die im Minutentakt an uns vorbei rennt, über Selinas Zustand auszufragen. Diese Ungewissheit macht mich verückt. Es sind Schritte auf dem kalkweißen Gang zu hören, Stimmen. Ohne jeden Zweifel mehrere Personen, ein oder zwei Frauen. Die Schritte verhallen. Und fangen wenige Minuten wieder an. Die Personen scheinen sich über ihren Weg unsicher zu sein. Sie kommen näher. Ich recke mich ein wenig, springe auf, als ich meine besten Freundinnen erkenne. Wir fallen uns nacheinander in die Arme. Freya sieht nervös aus, Elena aufgeregt und besorgt. ,,Wie seid ihr den hier her gekommen?" ,,Mit Mir." Noah steht hinter ihnen, hällt seinen Autoschlüsel noch in der Hand. Ich bekomme ein Lächeln zustande. Wir verteilen uns auf die Plätze. Leon gibt in der Kurzfassung den Unfall noch einmal wieder. Und dann sitzen wir wieder da. Freya, Elias, ich, Leon, Noah, Elena. Und da fällt mir eines auf. Wo sind Selinas Eltern, ihr Bruder? Ich wende mich mit dieser äußerst berechtigten Frage an Leon. ,,Ich habe ihnen noch nicht Bescheid gegeben." ,,Bist du doof? Uns rufst du an, aber ihren engsten Verwandten verschweigst du es?" Ich kann Freyas Empörung nachvollziehen. Ich hätte an Leon's Stelle ebenfalls anders gehandelt. ,,Sie sind nicht sonderlich gut auf mich zu sprechen." ,,Kein Grund, sie nicht zu informieren." ,,Ist ja okay." Er nimmt sein Handy heraus. Wählt die Nummer. Niemand geht ran. Behauptet er jedenfalls. Ich halte es nicht mehr aus und stehe auf, fange an, einen Kreis zu gehen. Wieder und wieder. Elias beobachtet mich mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck. Elena lehnt sich gegen Noah und zieht ihre Beine an. Ich bleibe stehen. Schaue meine Freunde an. Freya ist so blass wie ich vorhin auch. Leon starrt in Leere, Noah ebenfalls. Und Elias beobachtet mich. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. ,,So." Ich drehe mich zu der blonden Krankenschwester um. Sie scheint allerdings nicht zu uns gesprochen zu haben, denn sie sieht mich erstaunt an. Ihr Blick fällt auf meine Freunde. ,,Warten Sie auf die plötzliche Genesung ihrer Freundin?" Ich behersche mich nur mit Mühe. ,,Wäre es möglich, sie mal zu sehen?" ,,Momentan nicht. Guten Tag." Sie geht wie vorher der Arzt einfach weg. Ich lasse entrüstet meine Hände fallen. Was soll das hier den werden? Ich lasse mich auf meinen Stuhl falle und verbergen das Gesicht in den Händen, fühle mich wie in einem schlechten Film. Es ist 0.06 Uhr. Kurze Zeit später werde ich müde. Mein Kopf sinkt gegen Elias Schulter. Um 0.29 weckt er mich sanft aus meinem Dämmerschlaf. Der zuständige Artz steht vor uns, und es ist zum Glück nicht die Miezekatze, sondern ein älterer Herr mir grauen Locken und einem freundlichem Lächeln. ,,Sie können jetzt zu ihr." Leon springt auf. Ich muss erst einmal wach werden. Elias nimmt meine Hand und zieht mich einfach mit sich. Elena und Noah gehen hinter uns, Freya vor uns und Leon eilt neben dem Artz her. Wir bleiben vor einem Zimmer stehen. 108. Er öffnet die Tür. Leon zieht scharf die Luft ein. Sie liegt in einem Bett mitten im Raum, bis zur Brust zugedeckt. Der Rechte Fuß ist eingegipst. Mein Herz setzt einen Moment aus. Wenigsten stehen keine piepsenden Geräte um sie herum. Leon löst sich aus der Gruppe, geht auf sie zu, setzt sich vorsichtig auf ihre Bettkante. Er nimmt ihre Hand. Sie öffnet die dunkelbraunen Augen. ,,Hey!" Er lächelt, zieht seine Freundin in die Arme, drückt sie an sich. Sie schmiegt sich an ihn. Unbewusst lehne ich mich gegen Elias um die beide besser sehen zu können, er legt seinen Arm um mich. Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. Selina endeckt uns, setzt sich freudestrahlend auf. ,,Hey!" Nacheinander nehmen wir sie in den Arm, sie sieht nicht mehr ganz so blass aus wie noch vor wenigen Minuten, die Farbe kehrt in ihr Gesicht zurück. ,,Wie geht's?" ,,Ich habe eine Gehirnerschütterung, ein gebrochen Fuß und ein verstauchtes Handgelenk. Also blendend." Ich grinse. Das ist Selina wie sie leibt und lebt. Sarkastisch,witzig, gerade heraus. Die Tür fliegt auf und der Kater steht vor uns. ,,Also ich will doch sehr bitten! Die Patientin braucht Ruhe!" ,,Die Patientin hat einen Namen, den Sie gebrauchen dürfen." Selina wirkt leicht genervt. Der Arzt geht nicht auf ihren Kommentar ein, sondern blättert in Selinas Akte. ,,Ich muss ihnen leider sagen, dass wir sie einige Tage zur Beobachtung hier behalten müssen." Ihm tut es nicht leid. ,,Muss das denn sein?" ,,Ja. Unausweichlich. Und zu diesem Zwecke möchte ich Sie bitten, sich an unsere Hausordnung zu halten. Insbesondere das Hören von lauter Musik..." sein Blick fällt auf ihr Bandshirt von Serum 114 ,,ist strengstens untersagt." Er lächelt falsch. Was ist der Typ unsympathisch. Kaum ist er aus dem Zimmer, wettert sie los. ,,Was bildet der sich denn bitte ein, mir meine Musik verbieten zu wollen? Nich dazu in so einem Ton. Ich glaube der spinnt. Ich denke ich soll mich hier erholen, und dazu brauche ich Musik. Der wird sich noch umschauen." ,,Ja, es geht ihr definitiv schon wieder besser." grinst Freya. Elena nickt, in der Sekunde klingelt ihr Handy. Ihr Vater, der will, das sie ohne Umwege nach hause kommt. Sie drückt energisch auf den roten Hörer uns seufzt auf. ,,Der ist so nervig. Noah..." Sie sieht ihren Freund bittend an. ,,Klar." Sein Lächeln ist ehrlich, keineswegs entnervt. ,,Sollen wir dich auch wieder zurück bringen?" Freya nickt eilig. Die drei verabschieden sich. Und dann sitzen nur noch Leon, Elias und ich bei ihr. Besser gesagt ich liege neben ihr auf dem Bett , Leon sitzt auf der Kante und Elias auf meiner Seite auf einem Stuhl. Wir reden so lange und lachen uns über den Arzt kaputt, bis die Blonde von vorhin unsere Unterhaltung stört. Sie wirft uns achtkantig hinaus, mit der Begründung, Selina brauche Ruhe. Ha! Wenn sie eines nicht braucht, dann Ruhe. Sie mag Stille nicht. Nur Leon darf bei ihr bleiben, er ist ja sowas wie ein Familienmitglied. Und Freunde scheint sie als nicht wichtig genug zu erachten. So suchen nur Elias und ich den Weg zurück, durch endlose Flure und Gänge. Und laufen direkt in eine Gruppe von eilig gehenden Menschen hinein, sie schieben ein Bett. In ihm liegt ein kleines Mädchen mit kalkweißer Haut und roten Haaren.
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6 Monate , 3 Tage, 7 Stunden und 30 Minuten
RomanceEigentlich denkt man, es ist alles wie immer. Die Freunde sind die gleichen. Der Ort hat sich nicht verändert. Und ich fühle mich auch wie immer. Verrückt, ironisch, optimistisch, heillos romantisch. Aber es ändern sich Dinge. Menschen ändern sich...