Tränen

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Das Wetter draußen ist miserabel. Dunkle Wolken verdecken die Sonne und bringen eine düstere Atmosphäre. Ich trinke einen Schluck von meinem Kakao, lege meine Füße auf den mir gegenüber liegenden Stuhl. Ich bin allein. Alle anderen sind in die Stadt gegangen. Mittagessen gehen. Sie haben gefragt, ob ich mit komme, ich erwiederte, das ich keinen Hunger hätte und lieber allein bleiben wolle. Ich trommle mit meinen Fingern auf mein aufgeschlagenes Notizbuch. Die Seite ist leer, bis auf die Kringel, mit denen ich den Rand verziehre, während ich den passenden Einstieg suche.Ich weiß nicht, wie ich den Brief an Harry anfangen soll. Ich schüttle über meine eigene Ratlosigkeit den Kopf. Letzten Samstag ist mein bester Freund umgezogen. Es ist Mittwoch. Und ich weiß noch immer nicht, was für eine Überraschung Leon für Selina hatte,(Sie grinst nur geheimnisvoll, wenn man sie darauf an spricht) geschweige denn was es mit dem seltsamen Brief auf sich hat. Wer verschickt denn bitte einen Brief mit einem einzigen Wort? Und warum ausgerechnet ,,Liebes"? Freya hat noch immer kein Lebenszeichen aus Erfurt, Elena dafür wieder eine Beziehung. Eine glückliche, so, wie sie sich heute morgen begrüßten. Ich lege den Kopf in den Nacken und schaue zur Decke hinauf. Seid zweieinhalb Wochen lebe ich mit dem Gefühl, etwas so falsch gemacht zu haben wie überhaupt noch nie. Aber ich kann nichts für ihren letzen Atemzug. Ich sollte mich nicht verantwortlich fühlen. Und doch tue ich es. Liz, reiß dich zusammen. Es ist volkommen normal, das Menschen sterben, es gehört zum Lebenskreislauf der Natur dazu. Aber sie hatte ein so kurzes Leben, sie hatte es nicht verdient. Nein, aber das Leben ist nicht fair. Innerlich führe ich einen Kamf, bei dem es keinen Gewinner gibt, niemals einen geben wird. Ich ändere meine Position, ziehe meine Beine zu mir heran, lege das Kinn auf die Knie. Auch nicht wirklich bequemer. Gut zum denken dafür schon. Ich schließe die Augen, vorsichtig, als hätte ich Angst vor meinen eigenen Gedanken, die sich tief in mir aufhalten und dieses nagende Gefühl verursachen. Man kann solche Gedanken und Gefühle weg schieben, aber irgentwann werden sie einen wieder einholen. Also, warum sollte ich mir überhaupt die Mühe machen? Ich komme zu keinem Schluss, obwohl ich lange in diese Position ausharre. ,,Liz, alles okay?" Eine Hand legt sich auf meine Schulter. ,,Hm." ,,Lüg nicht, Mäuschen." Mein bester Freund zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich mir gegenüber. ,,Liz, ich rede mit dir." ,,Ich aber nicht mit dir." lautet meine Antwort. ,,Liz!" Ich hebe den Kopf. ,,Was?" Er schaut mich erschrocken an. ,,Du weinst." Jetzt erste bemerke ich die kühlen Tränen auf meinen Wangen. ,,Lizzy, warum?" Ich beiße mir auf die Lippe und wische mir mit einer schnellen Bewegung die Tränen weg. Ich sage nichts, kann ihm nicht in die Augen sehen. Er holt tief Luft. ,,Liz." Ich schaue ihn doch an. Er breitet mit einer theatralischen Geste seine Arme aus. Ich lasse es zu, das er mich in seine Arme nimmt, mir, wie einem kleinen Kind, über den Kopf und das Haar streicht. Wir sitzen eine ganze Weile da, an seiner rechten Schulter bleiben Spuren meiner Tränen zurück. Er sagt nichts in der Art wie es andere an seiner Stelle getan hätten. Sätze wie: ,,Alles wird gut." oder ,,Es geht vorbei." können mir nicht helfen. ,,So, und jetzt redest du." Ich sehe mich um, streiche mir eine Haarsträne aus dem Gesicht. Als ich meine Hand wieder fallen lasse, verläuft ein schwarzer Strich über meine Handfläche. Er schüttelt mit seinem typischen Grinsen den Kopf, bevor er mir ein Taschentuch aus seiner Tasche reicht, ich mir meine Mascara weg wische. Ich hole tief Luft. Er legt den Kopf schief. ,,Also." Meine Stimme zittert. ,,Du weißt, warum ich nach London geflogen bin?" ,,Natürlich. Wegen Lily." ,,Genau." Ich erzähle ihm von dem Abend, von den Tagen davor und auch von ihrer Beerdigung. Als ich erwähne, das sie Lilien gehasst hat, weil sie davon immer weinen musste, lächelt er, steckt mich damit an. ,,Es geht dir noch immer nahe." Keine Frage, eine Feststellung. Ich nicke. Ich spüre seine Hand auf meiner. ,,Du hast nichts tun können, Lizzy. Du hast ihr aber ihren letzten Wunsch erfüll. Sie war glücklich, in diesem Moment. Und deswegen solltest du auch glücklich sein." ,,Wenn es nicht so schwer währe." ,,Du musst sie nicht vergessen, Lizzy. Du musst die schönen Erinnerungen im Herzen behalten." Was für poetische Worte, aber er hat Recht. ,,Lass dir Zeit. Sowas verarbeitet man nicht in zweieinhalb Wochen." . Und es geht mir besser. 

,,Ach, Liz, schaust du mal bitte in den Briefkasten?" Freya wirft mir den Schlüssel zu. ,,Ist zwar eh umsonst, aber naja..." Sie zieht ihre Schuhe aus, wirft sie achtlos in den Schrank und geht in die Wohnung, lässt die Tür offen. Ich verdrehe die Augen und schließe auf und nehme die Post herraus. Ein Brief an ihre Mutter, ihre Oma, ihren Papa, Werbung, Werbung. Und ganz unten, unter all den anderen Briefen, ist ein blütenweißer Briefumschlag, auf den mit Füller ihr Name geschrieben ist. Ein sehr dünner Brief. Ich schlucke, verschließe das Fach, ziehe mir meine Schuhe aus und halte ihr den Brief unter die Nase. Sie zieht die Augenbrauen hoch, atmet seufzend aus. ,,Na dann." Ich lasse mich neben sie auf das weiße Sofa fallen. Mit schnellen bewegungen öffnet sie das Kuver und zieht das Schriftstück herraus. Sie faltet es auseinander. ,,Liebe Freya. Du hast dich durch jede Chastingrunde gekämpft und uns alle von deinem Können überzeugt. Egal, was wir verlangten, du konntest und diese Gefühle fühlen lassen, durch deine wunderbare Ausstrahlung und Spielfähigkeit. Du hast uns mit genommen, und dafür wollen wir dir herzlichst danken. Du hast uns alle eingewickelt, und uns ist schon seid längerem bewusst, das du das Mädchen bist, das diese Rolle verkörpern soll. Mit anderen Worten: Du hast die Rolle! Wir bitten dich, am Montag, dem 24. September, in unser Büro am Weidepark 8 zu kommen. Anbei ist ein Zettel für deine Erziehungsberechtigten, welche selbstredend auch herzlich eingeladen sind. Mit herzlichsten Grüßen, Annie und Arne Neumann, Schauspielagentur Fischer" Sie holt tief Luft, atmet zitternd aus. Wie versteinert sitzt sie da. Nur langsam kommt sie wieder zu sich. ,,Okay." Kommt es tonlos von ihr. ,,Okay?" Ich springe auf. ,,Das ist doch toll!" ,,Mh." Ich sehe sie an, sie schaut zurück. Dann breitet sich ein fröhliches Lächeln auf. ,,Oh Mein Gott." Die nächsten fünf Minuten hüpfen wir wie die Gestörten durch ihre Wohnung. ,,Ich glaub es nicht." Sie wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel, fährt sich durch das schwarze Haar, liest zum Wiederholten mal ihren Brief, der ihr Leben  verändern sollte.

6 Monate , 3 Tage, 7 Stunden und 30 MinutenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt