buntes Gewitter

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,,Elizabeth! Du willst mir nicht im Ernst erzählen, dass du dises Paket noch immer nicht geöffnet hast!" ,,Naja." Verlegen schiebe ich mir eine Locke hinters Ohr und lächle ihn vorsichtig an. Harry schüttelt nahezu fassungslos seinen schwarzen Haarschopf. Er trägt sie neuerdings etwas länger, es steht ihm. Durch die schnelle Bewegung ist er einen Moment lang unscharf, das Bild stockt, dann ist er wieder klar über den Bildschirm zu erkennen. ,,Lizzy." Seine Stimme wird sanfter. ,,Es ist nichts schlimmes. Es ist nämlich..." ,,Von ihr." Ich seufze leise. ,,Habe ich mir schon gedacht." Er lächelt verständnisvoll. ,,Ich wollte meines auch nicht öffnen, letzendlich war ich zu Tränen gerührt. Es ist so schön." ,,Ach Harry." ,,Hm?" ,,Ich vermisse euch. Ich vermisse dich. Ich vermisse sie." ,,Das tun wir alle. Und im übrigen vermissen wir dich auch. Ich hätte niemals gedacht, dass man sich so sehr an einen Menschen gewöhnen kann. So sehr, dass man die Anwesenheit als selbstverständlich hin nimmt, bis dieser Mensch fort ist. Ein für alle mal." ,,Sag sowas nicht." Ich werde fast ein wenig rührselig. Draußen geht langsam die Sonne unter, taucht mein Zimmer in ein warmes Licht. ,,Hol es her. Wir machen das zusammen, jetzt." Ich füge mich und lasse das schon ziemlich abgegriffe Paket in meinen Schoß fallen, betrachte es noch einen Moment, bevor ich es vorsichtig öffne. Harry lächelt. ,,Los. Nur keine Hemmungen." Ich lache kurz gekünstelt auf, bevor ich das Papier zur Seite streiche. Drunter kommt als erstes ein Buch zum Vorschein. Es ist in dunkelrotes Leder gebunden und mit goldenen Ornamenten verziert. Ich schlage es auf. Ganz vor, auf der allerersten Seite, ist Lilys ordentliche Handschrift zu erkennen. ,,Für Liz." Harry beugt sich etwas näher an die Kamera heran, als könne er sich aus meinem Laptop lehnen. ,,Ich habe auch so eines." Er springt auf. Seines ist dunkelblau und mit silbernen Verzierungen. Doch während meines relativ schmal ist gleicht seines einem Wörterbuch, so dick ist es. ,,Mit mir hat sie ihr ganzes Leben verbracht, mit dir ein halbes Jahr." ,,Ich weiß." Ich blättere um. Auf den folgenden Seiten sind Fotos fein säuberlich eingeklebt. Sie alle zeigen Lily und mich, mal allein, mal mit den anderen Campbells, mal auf den Anwesen der Familie, mal in London oder im Ferienhaus. Sie sind zeitlich sortiert, zu jedem ist ein kleiner Kommentar geschrieben. Die Schrift wird immer unleserlicher, je weiter ich in der Zeit voran schreite. Auf der allerletzten Seite, es ist so klein und krakelig geschrieben, dass ich es kaum erkennen kann, steht ein ,,Danke für alles Liz." Ich hole tief Luft und bewahre nur mit Mühe die Fassung. Harry lächelt mich an. ,,Süß, nicht?" Ich kann nur nicken. ,,Weißt du was? Leg es weg. Mach den Rest später auf." ,,Warum?" ,,Ich kenne dich. Am Ende bist du wieder tieftraurig, und ich muss dir doch noch etwas wunderbares erzählen." ,,Nur zu." ,,Harry!" Das ist Summer. Richtig geraten, denn nur wenige Momente später stürmt sie in Harrys heilige vier Wände und schlingt ihm vertraulich die Arme um den Hals. Sie flüstert ihm etwas ins Ohr. Er lacht. ,,Sorry, es gibt Essen." ,,Ist schon okay." Ich winke Summer zu, die zögerlich zurück winkt. ,,Wir skypen einfach später nochmal." ,,Gut. Bis dann, Lizzy." Es wird schwarz, er ist weg. Ich sehe aus dem Fenster bis die Sonne hinter der nächsten Bergkuppe verschwunden ist und frage mich, was er mir noch so gerne mitteilen wollte.

Mitten in der Nacht schrecke ich hoch. Ich höre das Knirschen des Kieses, der unsere Einfahrt bedeckt, als ein Auto drüber rollt. Ein Blick auf mein Handy später lasse ich mich mit einem resignierten Seufzen wieder in meine Kissenlandschaft fallen. Ich habe im Moment einen echt unruhigen Schlaf aus dem ich ziemlich oft gerade zu ruckartig erwache. Es ist anstrengend und es nervt. Immer werde ich von solchen Kleinigkeiten wach, wie zum Beispiel jetzt, von einem Autofahrer, der nicht weiß, wo er hin will und deswegen auf unserem Hof wendet. Toll. Ich lausche. Das Motor erstirbt mit einem seltsamen Nebengeräusch. Ich stehe auf und laufe zum Fenster. Ein stechend weißer Lichtstahl fällt hindurch, der gleich darauf erlischt. Unten Ist nun kaum etwas zu sehen, nur mit Mühe und Not kann ich einen Wohnwagen erkennen. Es steigen zwei Menschen aus. Ich brauche einen Moment, bis ich verstehe, welche unerwarteten Gäste just in diesem Augenblick auf unsere Haustür zu gehen, bereit, die gesamte Familie aus dem Schlaf zu wecken und ihnen die freudige Nachricht ihrer Rückkehr zu überbringen. Ich beeile mich nach unten zu kommen, bevor sie tatsächlich unsere Klingel betätigen können; reiße die Tür auf. ,,Lizzy!" Meine Oma schaut mich total erstaunt an. Sicher, sie ist mich nicht im Schlafanzug gewöhnt. ,,Hallo Enkelkind!" Mein Opa lacht, meine Oma nimmt mich fest in den Arm. ,,Du brichst ihr noch die Knochen!" Opa schaut vorwurfsvoll. Ich lache, werde auch von ihm umarmt. ,,Sie wird immer hübscher, nicht?" Sie nimmt mein Gesicht in ihre Hände. Opa lächelt. ,,Ja, du hast recht." ,,Na, wo sind denn die anderen?" Fragt er dann. ,,Ich schätze, da wo jeder normale Mensch zu dieser Zeit ist: in seinem Bett." Antworte ich frech. ,,Nanana." Oma droht mir spielerisch mit dem Zeigefinger, so wie sie es schon seid 18 Jahren macht. ,,Kommt doch erstmal hinein, ich gehe mal alle wecken."

,,Mutter, Vater!" Mein Papa fährt sich durch die Haare. ,,Was denkt ihr euch denn, hier so spät aufzukreuzen? Die Kinder müssen morgen früh zur Schule!" ,,Ach, mein Junge!" Opa lacht. ,,Sie werden es schon verkraften." ,,Ich brauch nen Kaffee." Grinst Oma. ,,Lizzy?" Ich lehne mich an die Kücheninsel. ,,Wir haben noch kalten da." Sie schüttelt sich bereits bei den Gedanken daran. ,,Sei ein nettes Enkelkind." ,,Ist ja gut." Ich lasse das Wasser für den Kaffee in die Kanne laufen. ,,Herzschonend?" Oma, Papa und Opa lachen herzlich über meine Frage. Also nicht. Ich lächle. Zehn Tassen, sechs Löffel Kaffeepulver. Und trinkt ihn Oma auch noch schwarz! Ich schütte beinahe mehr Milch aus Kaffee in meine Tasse, bis ich ihn endlich erträglich finde. Nella hat sich auf Omas Schoß gekauert, während Mo ganz lässig und cool in unserem Lesesessel sitz, seine Cola in den Händen, gespannt dem Reisebericht unserer Großeltern folgt. Auch mein Vater scheint sich langsam von seinem Schock zu erholen, seinen Eltern gegenüber zu sitzen. Gerade holt Oma tief Luft. Ihre grauen, sehr lockigen Haare hat sie einem kunterbunten Seidenschal nach hinten gebunden, ihre gesamte Kleidung ist wallend und mit bunten Mustern bestickt. Opa trägt, wie immer, eines seiner unverzichtbaren Hawaiihemden. Sie sind mir so vertraut, wie sie da sitzen, wild gestikulierend, laut lachend von ihren Reisen berichten. Ich muss, wenn ich die beiden sehe, immer an ein Gewitter denken, ein ziemlich buntes. Gewitter brechen, ähnlich wie die beiden, unerwartet über einen hinein und verschwinden so schnell wie sie gekommen sind. ,,Wie lange wollt ihr denn bleiben?" ,,So lange wie möglich." Opa legt den Arm um Oma.

6 Monate , 3 Tage, 7 Stunden und 30 MinutenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt