Lina schwitzte.
Man konnte nicht sagen, dass sie ein ein sportlicher Typ war. Dann doch eher der „Abends auf der Couch liegen, TV gucken und Chips futtern"-Typ. Wofür sie sich gerade insgeheim sehr bemitleidete.
Ihr blondes, schulterlanges Haar war feucht von den Anstrengungen und die Wanderschuhe schlugen schon erste Blasen. Dafür, dass die Dinger ein halbes Vermögen gekostet hatten, fühlten sie sich nicht unbedingt nach bester Qualität an.Sie bildete die Nachhut. Chris lief voraus, Kim klebte förmlich an ihm – und Matthias ging einige Schritte vor ihr. Hin und wieder drehte er sich um und warf ihr einen Blick zu.
„Alles okay dahinten? Sollen wir warten?", kam es von weiter vorne. Lina seufzte. Sie musste ihre Unsportlichkeit ja nicht schon nach einer halben Stunde zur Schau stellen. Also biss sie die Zähne zusammen und legte ein schnelleres Tempo vor, bis sie die anderen drei erreichte.Wenn es nicht gerade Matthias gewesen wäre, der sie zu dem Trip eingeladen hätte, hätte sie vermutlich nicht zugesagt.
Seit fünf Jahren waren sie befreundet. Nur befreundet. Damals hatten sie sich während Linas FSJ kennengelernt und waren ein paar Mal zusammen weggegangen.
Lina mochte Matthias ewigen Optimismus, seine Abenteuerlust und eine gewisse Nerdigkeit, die er mit sich brachte. Wenn er sich für Dinge begeisterte, dann mit vollem Einsatz. Etwas engeres Freundschaft war allerdings nie zwischen ihnen gewesen.
Die Idee, Kim und Chris mit auf die Tour zu nehmen, war ebenfalls Matthias Gehirn entwachsen.Lina war ehrlich gesagt nie so ganz klar gewesen, warum genau Matthias mit den beiden befreundet war.
Christian Roth, kurz Chris, war so eine Art Rockstar in ihren aller Bekanntenkreis. Dunkle Haare, die aus irgendwelchen Gründen immer aussahen, als wäre er gerade aus dem Bett gekrochen, schlank, groß und eine Menge Tattoos an Armen und Brust - und natürlich war ihm gefühlt jedes weibliche und vielleicht auch so manches männliche Wesen unter 50 verfallen. Ähnlich sah es mit Kimberly, kurz Kim, Brunner aus. Mit ihrer dunklen Mähne, die sich ihr bis hinunter zur Taille kringelte, den grünen Augen und der kurvigen Figur hatte sie sich schier unzählige Verehrer angesammelt, die ihr hinterherdackelten wie eine Herde Schafe.
Dass Matthias ausgerechnet Kim angeschleppt hatte, hatte Lina ein wenig schockiert.
Sie hatte nie eine besonders hohe Meinung von Kim gehabt und erinnerte sich auch heute noch gut genug an einen Moment in der sechsten Klasse, als eine jüngere Kim sie in einer der Kabinen der Schultoilette eingesperrt hatte. Die hatte mit ihrer Clique draußen gestanden und sich halb totgelacht, während Lina wild gegen die Tür gehämmert hatte. Am Ende hatte sie der Hausmeister frei gelassen – zwei Stunden später.
Dieses Ereignis schien Kim völlig aus ihrem Gedächtnis verdrängt zu haben. Oder es war ihr mittlerweile einfach peinlich. Was durchaus wünschenswert wäre. Und auch Lina schwieg. Sie hatte sich nach den vielen Jahren damit abgefunden – aber vergessen würde sie es wahrscheinlich nie.
Jetzt starrte Lina mit zusammengebissenen Zähnen auf Kims Pferdeschwanz ein paar Meter vor ihr, der bei jedem Schritt hypnotisch auf und ab wippte.Das Panorama lenkte Lina allerdings schnell von ihren negativen Gedanken ab.
Je höher sie stiegen, desto besser war der Ausblick. Vor ihnen lagen Täler, Wälder und sie glaubte sogar, einen großen, glitzernden See ganz tief unten ausmachen zu können.
„Und? Träumst du immer noch von Malle?", hörte sie Chris seine Freundin fragen. Kim verdrehte die Augen und ließ sich auf einen stumpfen Felsen nieder. „Die Landschaft hier ist ganz schön! Aber gegen einen Cocktail am Strand, serviert von einem sexy Animateur hätte ich tatsächlich nichts einzuwenden. Naja. Ist ja nicht der letzte Urlaub!"„Das ist die richtige Einstellung!", erwiderte Chris und setzte sich die Wasserflasche an die Lippen. „Aber hier tust du noch was für deinen Körper, anstatt nur faul rumzuliegen und Cocktails zu vernichten. Leute – ich fühle mich jetzt schon, als hätte ich richtig krasse Beinmuskeln aufgebaut!"
Nach ungefähr einer halben Stunde erreichten die vier eine Wiese. Gelber Löwenzahn blühte in Massen und am Rande der Wiese konnte man einen Holzzaun mitsamt einiger kleiner Hütten, gebaut aus einer Mischung aus Holz und Stroh, sehen.
„Die Dinger sehen aus wie kleine Wikingerhäuser!", sagte Chris. „Ob da drin jemand wohnt?"
Kim lachte. „Häää? Die sind doch winzig – da lebt bestimmt niemand, mitten im Nirgendwo! Wahrscheinlich lagern irgendwelche Bauern Werkzeuge oder sowas darin. Oder, Matthias?"Matthias zuckte mit den Schultern und betrachtete die schmalen Bauten. „Ehrlich gesagt, keine Ahnung. Aber klingt durchaus logisch. Hin und wieder wird sich sicherlich schon mal ein Bauer hierher verirren. Und da hinten sind schon die ersten Schafe."
Eine Herde aus Ziegen und Schafen weidete friedlich in einigen Metern Entfernung. Als die Truppe sich näherte, ließen die Tiere sich nicht stören, sondern fraßen einfach weiter.
„Wäre das nicht ein optimaler Zeitpunkt für ein Picknick?", ließ Chris hören. „Wenn ich die Viecher fressen sehe, bekomme ich auch Hunger."Das Picknick bestand aus Schinken-Käse-Sandwiches, Cola, Gemüsesticks und einer großen Tüte Gummibärchen. Nicht unbedingt eine nachhaltige Wanderverpflegung, wie Matthias anmerkte, aber dafür lecker.
„Wir könnten auch eine der Ziegen schlachten, wenn das bessere Wandernahrung ist!", schlug Chris vor und fing sich gleich darauf einen Schlag gegen seine Schulter von Kim. „Au! Du hast ja keine Ahnung - Ziegenbraten ist ne verdammt nice Sache! Schön mit Preisselbeeren und Rosmarinkartoffeln. Ein echtes Gedicht!".
„Wenn du nicht aufhörst zu reden, schlachten wir dich!", erwiderte Kim und sah eine Sekunde so aus, als würde sie es tatsächlich ernst meinen.
Sie waren spät in Mărişel angekommen, sodass nun nach einigen Stunden die Dämmerung einsetzte. Die Hitze schwächte ab und ein zuerst blasser, dann immer sichtbarer werdender Vollmond bildete sich am sich immer dunkler färbenden Himmel.
Eine grasbedeckte Fläche neben einem schmalen Bach stellte sich als passender Übernachtungsplatz heraus und nach einer guten halben Stunde standen vier kleine Zelte unterm schwarzen Sternenhimmel.Es war dunkel. Viel dunkler, als es Lina jemals gesehen hatte. In ihrer Heimatstadt München wurde es nie richtig dunkel, nicht einmal in den Dörfern im Umkreis.
Hier dagegen konnte man die eigene Hand vor Augen nicht sehen. Gut, dass es Taschenlampen gab.Kim ging als erste ins Zelt. Das schwarze Haar hatte sie zusammengebunden und sich abgeschminkt. So sah sie ganz verändert und blass aus, nicht mehr, wie die selbstbewusste Sekretärin im ihrem Empfangsbüro, sondern eher, wie ein junges Mädchen.
Die drei übrigen hatten ein Lagerfeuer entfacht, um zumindest eine Lichtquelle zu haben. Die Funken stoben in alle Richtungen und es prasselte warm und gemütlich zwischen den Holzscheiten. Lina beobachtete die Gesichter ihrer Freunde im Schein des Lichts. Beide sahen so irgendwie geheimnisvoll aus, so, als würden sie gleich eine Gruselgeschichte auspacken. Doch sie schwiegen. Fast andächtig. Als würde jeder Laut, jedes Wort diese einzigartige Atmosphäre zerstören.Später auf der Luftmatratze in ihrem Zelt konnte Lina lange nicht schlafen. Sie war solch eine absolute Stille und Dunkelheit einfach nicht gewöhnt. Wenn sie in ihrem eigenen Bett lag, hörte sie draußen die Straße. Oder ihre Nachbarn, die jeden Abend pünktlich um 22 Uhr stritten und sich Schimpfworte an die Köpfe warfen. Oder Kindergeschrei zwei Wohnungen weiter.
Hier hörte man rein garnichts. Nur das leise Rascheln, wenn sie sich ein wenig auf der Matratze bewegte.
Als sie dann irgendwann doch in den Schlaf übergeglitten war, träumte Lina.Sie träumte von ihrem Urlaub. Von Kim, Matthias, Chris und sich selbst. Von Bäumen, unendlichen, weiten Wäldern und – Bären. Grizzlies. Groß und schwarz und mit gefährlichen, roten Augen. Das Fell verfilzt und schmutzig. Sie umschlichen die Zelte. Lina erkannte das Ihre sofort. Grauschwarz, mit einem kleinen Brandfleck neben dem Eingang, den irgendein besoffener Typ auf einem der letzten Festivals versehentlich dort hineingebrannt hatte. Die Schnauzen der Bären bewegten sich. Witterten. Gelbe, unnatürlich spitze Zähne und Speichel, der ihnen vor Blutdurst und Hunger vom Maul triefte. Im Traum wollte Lina nach ihren Freunden rufen – sie zur Flucht bewegen. Aber kein Wort kam aus ihrem Mund. Dafür steckte einer der Grizzlies seine große Schnauze durch den Zelteingang, der jetzt absurderweise völlig offen stand. Gestank drang Lina in die Nase. Unerträglicher Gestank nach Verwesung und - frischem Blut. Von draußen drangen Schreie an ihr Ohr. Gellende Schreie, so verzweifelt und in Todesfurcht, dass sie sich die Hände vors Gesicht presste. Gerade, als der Bär sie mit seinen teuflisch roten Augen taxierte und zum Sprung ansetzte, wachte Lina auf. Und schrie auf, als sie ein weißes Gesicht vor sich erblickte.

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HOJA
Mystery / ThrillerEine Wanderung in den endlosen Wäldern Rumäniens wird für vier junge Menschen zum absoluten Horror-Trip. Eine Gruselgeschichte pünktlich zur düstersten Zeit des Jahres. Das ist mein erster Roman, bitte seid nett ;))