Verlaufen

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Auch an diesem Tag hatte die Sonne zum vermehrten Mal kein Einsehen. Nicht das kleinste Wölkchen konnte man am Himmel entdecken, dafür strahlte sie mit aller Kraft auf Linas Kopf herunter. Aber eigentlich war ihr die Hitze vollkommen egal. Auch die Schmerzen im Rücken und die erneut aufgegangene Blase an ihrem großen Zeh. Verdammte Wanderschuhe.

Sie lief am Ende der Gruppe und hatte Kims und Matthias Rückseite im Blick. Kim mit ihrem dämlichen, viel zu großen Strohhut. Und Matthias, der Schweissflecken auf dem Rücken seines T-Shirts hatte. Eigentlich passten die beiden doch ganz gut zusammen. Von hinten jedenfalls.

Ein paar Schritte vor ihr wanderte Hexe, die mit den bunten Klamotten und ihren höchstens 1,50 Meter ein wenig aussah wie ein Kind auf einem Wanderausflug. Die Haare hatte sie unter einer zipfeligen Kapuze versteckt und Nina schwitzte allein beim Anblick noch mehr als jetzt schon. Kim und Jennifer blitzten sich hin und wieder böse an, hielten aber stets einen gewissen Sicherheitsabstand. Finn hatte die Führung übernommen. Er lief voraus, den Wegplan vor der Nase und warf immer wieder einen prüfenden Blick darauf. Und Chris trottete mit Abstand zur Gruppe und miesgelaunten Gesichtsausdruck nebenher.

Wo sie insgeheim alle hofften, dass Mike plötzlich lachend hinter der nächsten Biegung hervor gehüpft käme, passierte natürlich nichts dergleichen. Er schien wie vom Erdboden verschluckt. Zum tausendsten Mal grübelte Lina über sein Verschwinden. Mike – sie kannte ihn kaum. War es möglich, dass er, wie Kim gesagt hatte, sich tatsächlich einfach aus dem Staub gemacht hatte? Aus Enttäuschung heraus vielleicht? Aber er hatte nicht wie eine Dramaqueen gewirkt, ganz im Gegenteil. Oder war der Alkohol Schuld?

Sie hätten ihn da nicht allein sitzen lassen dürfen.

Gänsehaut, die nichts mit Kälte zu tun hatte, lief ihr über die Oberarme. Es war schon schrecklich gewesen, in der Gruppe verloren zu gehen. Aber ganz alleine, irgendwo in den Wäldern Rumäniens, ohne Handyempfang und einer Karte?

Und dann waren da noch die seltsamen Vorkommnisse der letzten Tage. Die Aufnahme auf dem Diktiergerät. Der Tote im Berg.

Sie hatte gedacht, die Probleme hätten sich mit dem Zusammentreffen dieser Menschen in Luft aufgelöst. Mike hatte sie so freundlich empfangen und das erste Mal seit Tagen hatte sie sich normal gefühlt. Weit weg von diesen unnatürlichen Dingen, die sie erlebt hatten.
Und jetzt? Mike war weg. Und damit auch das gewonnene Gefühl der Sicherheit.

Die Zeit verging langsam und das Wandern zehrte an den Kräften, gerade, weil das Gelände immer steiler wurde.
„Sag mal..", keuchte Jennifer, als sie gerade einen felsigen Hang erklommen hatten. „Wieso ist das hier so bergig? Sollte es laut Plan nicht eher flach sein? "

„Wundert mich ehrlich gesagt auch.", gab Finn zurück. „Ich kann mich auch nicht erinnern, den Weg schonmal gegangen zu sein und laut Plan müsste das der Fall sein. Schau mal, wir sind vor ein paar Tagen hier gelaufen!" Er tippte auf eine Stelle des Papiers. Jennifer legte den Kopf schief. „Stimmt. Mir kommt das hier aber auch nicht bekannt vor. Verdammt, wenn nur Mike hier wäre!"
Wieder bekam ihre Stimme einen weinerlichen Ton.
„Wir finden schon raus, keine Angst, Jen." Finn klang ruhig und besonnen, aber Lina fiel auf, dass Matthias und Kim sich vor ihr einen besorgten Blick zuwarfen.


„Ziemlich anstrengend, hm?"

Lina hatte anscheinend im Laufen vor sich hingedämmert, denn die Worte schreckten sie aus einer Art Kurzschlaf. Hexe hatte sich zurückfallen lassen und wanderte jetzt neben ihr her. Ihre freundlichen braunen Augen fixierten Lina und die zu einem Lächeln verzogenen Lippen offenbarten wieder die winzigen weiße Zähnchen.

„Wie gehts dir denn?", fragten diese Lippen. Lina seufzte. „Es...ging schonmal besser.", erwiderte sie und sah, wie Hexe wissend nickte.

„Kannst du laut sagen. Richtige Scheiße, das mit Mike."

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