Die Wiese

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Sämtliche Augenpaare waren auf Jennifer gerichtet. Ihre schlanken Hände mit den langen Fingern zitterten nur minimal.

"Was?"
Finn packte die Blondine am Handgelenk und starrte auf das kleine, grüne Etwas, das sich unter abgeblätterten, pinken Nagellack befand. "Wie lange hast du das schon?"
Jennifer zuckte mit den Schultern und entzog sich Finn. 
"Eine Weile. Das erste Mal aufgefallen ist es mir, als wir die Straße entlang gelaufen sind. Ich dachte, ich bilde es mir vielleicht nur ein. War zuerst nur ein Fleck. Aber es ist größer geworden."
Ihre Stimme klang so emotionslos, als würde sie eine Hausaufgabe in der Schule herunterrattern. "Vielleicht ist es ansteckend!", kam es von Kim. "Ich würde lieber Abstand halten."
Da war sie wieder. Die Kim, die man kannte. 
Lina rückte unwillkürlich ein Stück von ihr und machte einen Schritt auf Jennifer zu.
"Wie fühlst du dich?", fragte sie leise. "Anders als sonst?""Nicht so, als würde gerade ein Dschungel in mir drin wachsen.", erwiderte Jennifer ohne jeden Witz. "Aber das ist ja wohl der Fall. Ich werde enden wie euer Freund und deswegen ist es das Sinnvollste, wenn ich hier bleibe. Geht ruhig. Ich komme schon klar." Wie zur Bestätigung Ihrer Aussage zog sie die Knie noch näher an sich heran und umschlag sie mit den Armen. "Vielleicht habt ihr Glück und kommt hier irgendwie raus. Ich kann nicht mehr und will nicht mehr."

Die Art, wie Jennifer das sagte - wie klar war, dass sie offensichtlich mit ihrem Leben abgeschlossen hatte, ließ das schwarze Loch der Hoffnungslosigkeit in Linas Brust noch stärker anwachsen. Gleichzeitig empfand sie einen fast widerwilligen Respekt vor der junge Frau. Sie wüsste nicht, wie sie selbst reagieren würde. Sie wusste nur dass der Gedanke daran, hier alleine in der Lichtung sitzen zu bleiben, der größte Horror wäre.
Mit jedem Worte Jennifers schüttelte Finn den Kopf wilder. "Bist du vollkommend bescheuert geworden? Wegen diesem Scheißding lassen wir dich hier sicher nicht zurück. Wir wissen nicht mal, wie lange es dauert, bis es - vielleicht - ausbricht! Wir wissen gar nichts. Hier zu bleiben, wäre der sichere Tod, willst du das? Wir kommen hier raus und dann bringen wir dich in die nächste Klinik und alles wird okay. Okay?"
Aufgewühlt kniete er vor Jennifer und redete auf sie ein. Erst laut und erregt, dann wurde seine Stimme ruhiger und schließlich so leise, das Lina nichts mehr verstand.
Sie erschrak, als Kim neben ihr schnaubte.
"Fuck! Wir stehen hier sinnlos rum, warten eigentlich nur darauf, dass das das Vieh kommt, oder die Bäume uns alle umbringen - und Er hat nichts Besseres zu tun, als eine Totgeweihte anzubetteln, dass Sie doch bitte mitkommen soll, um uns alle zu infizieren! Ich weiß ja nicht, aber ich finde, dass sie hier bleiben möchte, war das einzig Sinnvolle, was sie jemals von sich gegeben hat!"

"Wir wissen nicht, wie die...Krankheit übertragen wird.", presste Lina durch zusammengebissene Zähne hervor. "Vielleicht tragen wir sie sowieso alle schon in uns. Wir wissen doch rein gar nichts! Aber jemanden zurückzulassen, ist scheiße. Was würdest du denn an ihrer Stelle sagen? Bestimmt würdest du nicht da sitzen bleiben und dich opfern!"
Kim hob die Brauen, schien aber zumindest kurz über Linas Worte nachzudenken. Dann seufzte sie:
"Mir doch egal. Macht, was ihr wollt! Ich will jedenfalls nicht so enden wie Chris! Wenn sie mitkommt, will ich einen Sicherheitsabstand! Hörst du??"
Die letzten beiden Worte schrie Kim Jennifer entgegen. "Und atme mich bloß nicht an!! Und berühr mich nicht! "

_

Die Lichtung lag schnell hinter ihnen und mit jedem Meter, den sie sich von ihr entfernten, fühlte Lina sich zumindest ein klein bisschen weniger angespannt. Die Bäume hier glichen wieder eher richtigen Bäumen und alles wurde etwas lichter. Doch wieder war alles starr. Kein Lufthauch, kein sich im Wind bewegender Grashalm oder Ast. Lebenslosigkeit.
Kim lief voraus. Wobei, man konnte es nicht laufen nennen, sie schwankte mehr und schien Probleme zu haben, sich sicher auf den Beinen zu halten. Ob aus Erschöpfung, oder aus fehlender Hoffnung. Das wusste Lina auch bei sich selbst nicht. Sie tat einen Fuß vor den anderen und ihr Kopf hatte sich irgendwann ausgeschaltet. Stur trabte sie geradeaus, achtete nicht auf Äste und Steinchen. Einige Meter hinter ihr folgte Finn, der Jennifer gestützt hielt. Vor Kim hatte Lina es nicht zugegeben wollen, aber auch ihr machte der Gedanke daran, dass Jennifer irgendeine Art Keim in sich zu tragen schien, große Bedenken. Sie hatte Chris gesehen. Verwandelt in etwas, das weder Mensch noch Pflanze war. Was war das nur, zur Hölle nochmal?
Jennifer hatte sich den befallenen Finger vor kurzer Zeit verletzt. War ihr dabei irgendein Zeug in die Wunde geraten? Dasselbe Zeug, das auch Chris befallen hatte?
Aber sie alle hatten auf dieser Reise ihre Verletzungen davongetragen. Sie selbst hatte ebenfalls Risse und Schürfwunden abbekommen. Plötzlich juckte es Lina am ganzen Körper und sie schüttelte sich unwillkürlich. Eine widerliche Vorstellung, dass das etwas in ihr wachsen könnte. Sie musste an ihre Großmutter denken, die ihr stets verboten hatte, Kirschkerne zu schlucken, weil daraus resultierend angeblich ein Kirschbaum in ihrem Magen wachsen würde. Sie hatte die Kerne natürlich trotzdem geschluckt.
Breitete sich jetzt gerade etwas in ihr aus? Wurden ihre Leber oder ihr Herz gerade von grünen Ranken umwachsen? Oh Gott.....
Lina verbannte diese unangenehmen Gedanken tief in ihren Hinterkopf. 

Es war noch relativ hell, doch am Himmel stand ein breiter, großer Vollmond, der sich blass aus dem Abendrot abhob. Zusammen mit den vereinzelten schwarzen Baumkronen, hätte das ein sehr stimmungsvolles Motiv für ein Foto abgegeben. Wie viel würde sie jetzt dafür geben, zuhause im Bett zu liegen und aus dem Fenster hinaus den Vollmond betrachten. Oder vom Balkon aus, mit einem Glas Rotwein in der Hand und einer Portion Spaghetti Vongole neben sich auf dem Tisch. Es könnte ein wundervoller Abend sein, wären sie nicht hier in dieser Hölle gefangen.
Konnte man sich damit abfinden? In einem ewigen Albtraum zu wandeln? Konnte sie wie Jennifer, zumindest äußerlich, gelassen dem Tod entgegenblicken? Gerade waren noch zu viele Gefühle in ihr. Wenn sie Kim vor ihr zetern und mit sich selbst sprechen hörte, ging es dieser wohl genauso. Lina warf einen Blick über die Schulter und sah Finn, wie er behutsam die Arme um Jennys Taille gelegt hatte und sie über den unebenen Waldboden leitete. Sie war das einzige wirklich Vertraute, was er noch aus seinem alten Leben hatte. Genau wie Kim das Ihre war. Die einzige Verbindung zu früheren Zeiten, als das Leben zwar nicht einfach, aber um einiges einfacher war. Wo sich die Tage um Familienstreitigkeiten, finanzielle Problemchen und ähnlich nichtiges drehten.
Wie sehr sich Lina diese Probleme zurück wünschte.
Irgendwann endete der Wald und sie traten auf eine Wiese hinaus. Eine mit farblosem Gras bewachsene Wiese, die Lina an diese schwarzweißen Bilder aus dem ersten Weltkrieg erinnerte. Leblos. Irgendwie....alt.

Da die Dunkelheit schnell kam, entschieden sie sich dazu, auf der Wiese zu nächtigen. Sie suchten sich einen Platz unter einem knorrigen, kahlen Baum und Finn entzündete mit einiger Mühe ein Lagerfeuer. Erst rauchte es mehr, als es brannte und der stechende Qualm brannte ihnen alle in den Kehlen. Doch dann kamen die Flammen und und züngelten in den Nachthimmel hinauf.
Lina spürte die Hitze des Feuers in ihrem Gesicht und rückte ein bisschen näher. Es wirkte vertraut und tröstlich. Sie alle starrten in die züngelnde Glut. Orange und gelb spiegelte sich in ihren aller Augen wider. Niemand sprach viel.
Irgendwann verabschiedeten sie sich nacheinander in ihre Zelte und Lina schlief ein, sobald sie die Decke an ihr Kinn gezogen hatte.

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