Draußen vor dem Fenster.

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Die Zeit schien nicht zu vergehen. 

Lina stand an einem der Fenster, hatte den ausgefransten Vorhang zur Seite gezupft und linste nach draußen.
Es dämmerte und durch den grauen Nebel, der zwischen den Bäumen schwebte, wirkte der Wald wie aus einem Horrorfilm. Ungemütlich. Mystisch. Fremdartig.
Still lag er da. Kein Ast wehte im Wind, kein Blatt fiel zu Boden. Kein Eichhörnchen, kein Vogel, kein Insekt. Nur der Nebel war in Bewegung und waberte langsam und leise vor sich hin. 

Jetzt, wo sie sich zumindest ein bisschen beruhigt hatte, war Lina heilfroh, ein Dach über dem Kopf gefunden zu haben. Der Gedanke, da draußen zu schlafen, ohne jeden Schutz, nur mit dem Nebel und einem....Wesen, bereitete ihr Kopfschmerzen.

Doch der Schreck saß ihr noch immer tief in den Knochen. Die Panik, ihre Freunde aus den Augen verloren zu haben und allein da draußen herum zu irren, war unerträglich gewesen. Hatte die nackte Angst eine Einbildung ausgelöst? Das Klicken, die Berührung – war es echt oder halluzinierte sie schon wieder? Waren diese seltsamen Erlebnisse tatsächlich real? Die beiden Forscher hatten darüber gesprochen. Vor 50 Jahren. Konnte dieses...dieses Etwas, so sollte es denn existieren, so lange überleben?
Sie drehte sich um und ließ rasch den Blick über ihre Freunde gleiten. Niemand beachtete sie, alle waren mit sich selbst beschäftigt.

Die Gruppe schien zwiegespalten. Jennifer, Finn und Matthias hielten ihre Angst vermutlich für Hirngespinste. Kim wirkte zumindest teilweise so, als glaubte sie an etwas Mysteriöses. Hexe...Hexe hatte mit Sicherheit daran geglaubt. Chris hatte sich irgendwie von ihnen entfernt und Lina konnte nicht ganz sagen, was in seinem Kopf vor sich ging. Er hatte sich von seinem früheren Selbst um 180 Grad gedreht.
Und sie selbst? Sie wusste nicht, was sie denken sollte.

Wenigstens fühlte sich sich in der Hütte einigermaßen geschützt. Jennifer hatte ein paar Teelichter angezündet, die warmes Licht spendeten und alles in einen behaglichen Schein tauchten. Ihre Schlafsäcke hatten sie auf dem Boden ausgebreitet, nachdem der größte Staub beseitigt war. Viel Platz bot die Hütte wirklich nicht, aber nach einigen kleinen Zankereien hatte jeder eine Ecke für sich gefunden.
Kim saß mit angezogenen Knien auf ihrem Schlafsack und drückte erfolglos auf ihrem Iphone herum. Dann seufzte sie auf. „Hat eigentlich zufällig irgendjemand eine Powerbank oder sowas dabei? Fionn, du vielleicht? Du bist doch ein Technik Freak."
Der schüttelte den Kopf. „Sorry. Die liegt zuhause auf meinem Schreibtisch. Wollte sie eigentlich einpacken, aber hab sie dummerweise liegen lassen. Aber Jennifer sollte eine haben, oder Jen?"

Lina verdrehte innerlich die Augen. War Finn so bedenkenlos, dass er den Streit zwischen den beiden noch anheizen wollte? Jedem Kind wäre klar, dass Jennifer und Kim sich schlicht und ergreifend hassten und sich so gut es eben ging, aus dem Weg gingen.

Jennifer, die auf der anderen Seite des Raumes kniete und die Finger über eines der Teelichter schweifen ließ, zuckte nicht einmal mit der Wimper, als ihr Name fiel.
„So wichtig ist es dann auch nicht.", murmelte Kim und legte das Handy weg.

„Willst ein paar Selfies für dein Instagram machen, oder was?", kam es plötzlich von Chris. „Das Ding ist zu nichts zu gebrauchen, falls du es noch nicht gecheckt hast! Kein Netz!" Die letzten beiden Wörter betonte er, als würde er einem Kleinkind etwas erklären müssen und gab dann
einen Laut von sich, der halb nach Lachen, halb nach Verzweiflung klang.
„Scheiße Leute, ich fühl mich wie in Tanz der Teufel. Das ist total dasselbe Feeling. Junge Menschen in einem verfluchten Wald, eine alte Hütte....fehlt nur noch, dass es hier einen kranken Keller mit dem Necronomicon und Beschwörungsformeln gibt. Die Hütte kommt mir verdammt seltsam vor. Wie Ratten in einem Käfig."

„"Necro" – waaas?" Kims Augenbrauen waren hoch in die Stirn gezogen, als sie ihren Freund, oder mittlerweile wohl eher Ex-Freund, ansah. „Du würdest also lieber weiterhin da draußen im Wald herumirren und nicht in einer geschützten Hütte sitzen? Das ist ja das bescheuertste, was ich je gehört hab!"

Chris überging Kims Worte einfach. „Spürt ihr das nicht? Diese verdammt miese Aura hier drin? Draußen war sie nicht so krass. Auch schlecht, aber nicht so schlimm. Wir sind hier gefangen."

Sie alle starrten ihn an, wie er da auf dem Boden saß, wie es wirkte, jederzeit bereit, aufzuspringen. Lina fand, dass er richtig übel aussah, schlimmer noch als bei ihrem letzten Gespräch nach Hexes Unfall. Die sonst stets leicht gebräunte Haut wirkte blass und fast durchscheinend. Die Wangenknochen waren hohl und dunkle Augenringe prangten unter den Lidern. Von dem hübschen Typen, der alles und jeden abschleppen konnte, war nicht mehr viel übrig.
Kim schien das nicht zu bemerken oder vielleicht war es ihr auch einfach egal.
„Du spinnst doch. Wenn es so schlimm ist, dann geh doch und schlaf draußen. Wenn der Nebel dich bis morgen früh nicht verschluckt hat!"

„Hey, hey, hey, Leute. Hatten wir nicht ausgemacht, dass es keine sinnlosen Streitereien mehr gibt?"

Matthias seufzte. „Die Hütte macht schon Sinn. Ich denke doch, niemand von uns würde wirklich draußen übernachten wollen. Nicht bei dem Nebel. Und wir können mit gut Glück davon ausgehen, dass sich Zivilisation ist der Nähe befindet. Die Hütte scheint zwar schon länger niemand mehr betreten zu haben, wenn man von der Staubschicht ausgeht, aber -"

Weiter kam er nicht, denn in dem Moment erklang das Klicken. Das widerliche, monotone Klicken, das sie zu verfolgen schien. Linas Herzschlag wurde schneller. Nicht schon wieder! Sie konnte sehen, wie alle erstarrt waren und sie selbst nicht die Einzige war, der die Furcht ins Auge geschrieben stand.

Jennifers Pupillen waren riesig und sie kaute auf ihrer Unterlippe. Und auch Kim und Finn wirkten mehr als angespannt. Chris standen Schweißperlen auf der Stirn.

„Es ist da."

Seine Worte klangen so erstickt, so ängstlich, dass Linas Brust sich noch mehr verkrampfte. Langsam, ganz langsam, drehte sie den Kopf und starrte aus der schmutzigen Fensterscheibe.
Zuerst sah sie nichts. Nur den Nebel. Dicke, fette, Rauchschwaden. Die schwarzen Silhouetten der Bäume waren nur zu erahnen. 
Sie spürte Kims Atem in ihrem Nacken, die hinter ihr stand und wie sie nach draußen glotzte. Auch Matthias und Finn hatten sich zu ihnen gesellt. Alle schwiegen.
Und dann sah sie ES.



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