Hexe

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Der Schrei, der an ihr Ohr drang, war ein Schrei tiefster Verzweiflung.

Lina fuhr hoch und stöhnte im selben Moment auf. Ihre Hand pochte. Verwirrt starrte sie auf das rote, glänzende Fleisch ihrer Handfläche. Sie war angeschwollen, beinahe auf die doppelte Größe. Wie die Klaue eines Hummers sah das aus. Und so eklig, dass Lina einfach nur glotzte, als würde das Körperteil gar nicht zu ihr gehören. Sie musste eingeschlafen sein. Wie ihr das bei diesem Unwetter gelungen war, sollte ein Rätsel bleiben.

Ein zweiter Schrei, mindestens genau so verzweifelt als der vorherige, schreckte sie aus ihrem Schockzustand. Hastig und ohne viel nachzudenken packte sie ein Shirt, das neben dem Kissen lag, wickelte es sich stöhnen mehr schlecht als recht um die Wunde und riss dann so stark an dem Reißverschluss des Zeltes, dass das beinahe in sich zusammenfiel.

Nur wenige Schritte vor ihrem Kopf entfernt sah sie Jennifer kauern. Kurz dachte Lina, sie würde noch träumen, so seltsam wirkte die Szene.

Jennifers lange, dicke, blonde Haare umrahmten wie ein Umhang ihren Oberkörper. Sie hatte eine Haltung eingenommen wie eine Mutter, die gerade ihr Baby stillte. Unter dem vielen Haar erkannte Lina ein winziges Gesicht. 
Jennifers Blick traf den ihren. Die blauen Augen waren aufgerissen und die Pupillen so groß und schwarz, als wäre sie high.
Hinter ihr kamen auch die anderen aus ihren Zelten gekrochen. Finn war der erste an Jennifers Seite. Wo der junge Mann sonst so selbstbeherrscht und gefasst wirkte, sah Lina jetzt Tränen, die seine Wange hinunter liefen.

Er fiel vor Jennifer auf die Knie und nahm Hexes Kopf in die Hände. Es sah aus, als würden die beiden um ihr Kind trauern.

„Was ist los? Oh..."

Kim schlug die Hand vor den Mund. „Oh scheiße!! Ist das Hexe?"

Lina näherte sich langsam. Es kam ihr unangenehm aufdringlich vor, aber sie wollte Hexe sehen. Sehen, ob sie wirklich.....

Weder Jennifer noch Finn regten sich, als Lina sich vor die beiden kniete und einen Blick auf das Mädchen in ihren Armen warf.

Hexe sah im Tod noch winziger aus als im Leben.

Lina hatte immer gedacht, dass ein Mensch nach dem Einschlag eines Blitzes total verkohlt und unerkennbar wäre. Aber Hexe wirkte nicht so viel anders als sonst. Eine schwarze Wunde zierte ihre Stirn. Die Lippen waren blau. Die roten Dreadlocks etwas angesengt. Aber im großen und Ganzen könnte sie auch einfach nur schlafen.

„Wieso ist sie nach draußen gegangen?", murmelte Finn mit bröckelnder Stimme und schaute auf. „Völlig verrückt, bei so einem Gewitter rauszugehen. Kein normaler Mensch würde so etwas machen. Warum ist sie nicht in ihrem verdammten Zelt geblieben?!"

Auch Kim und Matthias waren herangetreten und schauten von oben auf Hexe herab. Matthias sah bestürzt aus und sogar Kim schien den Tränen nahe zu sein.
„Wahrscheinlich hatte sie Panik. Das Gewitter war ja auch wirklich extrem heftig. Vielleicht wollte sie nicht allein sein." Kims Stimme zitterte.

Bei den Worten schluckte Lina schwer. Der Reißverschluss ihres Zeltes kam ihr in den Sinn. Er hatte sich bewegt. Sie hatte gedacht, dass der Wind der Auslöser gewesen war. Aber vielleicht...

Sie wollte, sie konnte nicht weiterdenken.

Hexes Zelt stand dicht neben dem ihren....

Schweigen erfüllte die Luft, während sie rings um die beiden Mädchen herumstanden und jeder seinen eigenen Gedanken nach hing.

„Wir müssen sie beerdigen.", ergriff Matthias schließlich das Wort und als Jennifer darauf hin ein ersticktes Keuchen von sich gab, hob er ausweichend die Hände.
„Tut mir leid. Ich weiß, das klingt krass. Aber wir können sie nicht mitnehmen und auch nicht einfach so hier liegen lassen. Oder was meint ihr?"
Die Frage war ihnen offensichtlich allen mehr als unangenehm. Auch Lina wich Matthias Blick aus und starrte stattdessen auf eine verkohlte Stelle im Gras.

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