Anruf aus dem Nirgendwo

39 10 0
                                    

Später, als Lina im Bett lag, dachte sie an das, was Kim gesagt hatte.

Der Wald ist nicht normal."

Von draußen kam kein Laut. Kein Knistern des Feuers, kein Rauschen des Windes, der etwas zugezogen hatte und die Zeltwände ein bisschen flattern ließ. Obwohl Lina gedacht hätte, dass sie sofort einschlafen würde, wenn sie auf ihrer Isomatte lag, spürte sie nicht die geringste Müdigkeit. Nicht nur das, der Gedanke an Schlaf bereitete ihr Unbehagen, nicht zuletzt natürlich dank Mikes Verschwinden.

Um sich abzulenken, griff sie in ihren Rucksack, der neben ihrem Kopf in der Ecke des Zeltes lag. Sie wühlte ein bisschen herum, und zwischen einer Thermosflasche mit einem Rest von Wasser darin und einer leeren Chipstüte stieß sie auf das Buch, das sie in dem kleinen Laden in Hermannstadt gekauft hatte.
„Sagen und Legenden aus Siebenbürgen".
Das Titelbild mit einer nebelverhangenen Burg und altdeutschen Lettern darauf sah aus wie das Cover eines Black-Metal-Albums.

Bei dem Anblick fiel ihr ein anderes Buch ein, das hier herumliegen musste. Ein kleines Büchlein mit schwarzem Einband und fleckigen Seiten. Die Aufzeichnungen des Forschers! Lina fuhr hoch, soweit das in dem Zelt eben möglich war. Wo hatte sie das alte Ding gelassen? Mit den Händen fuhr sie den Boden ab, griff sogar in den Schlafsack. Nichts. In ihrem Rucksack war es ebenfalls nicht. Verdammt! Es musste doch hier drin sein!?
Als ihre Fingerspitzen schließlich zwischen einem Haufen zerknitterter Kleidung, endlich auf etwas hartes stießen, stieß sie Luft aus, die sie zuvor gefühlte Minuten lang eingehalten hatte. Erleichterung überströmte sie. Schließlich wäre es wirklich mehr als blöd gewesen, ein fünfzig Jahre altes Buch einfach zu verlieren.
Der bekannte, irgendwie modrige, Geruch stieg ihr in die Nase und sie schlug die erste Seite auf.

Die enge Schrift machte wirklich jedem Arzt Konkurrenz. Lina musste sich extrem anstrengen, sie zu entziffern, doch mit jedem gelesenen Wort wurden sie verständlicher.

Der Mann schien Naturforscher mit einem Schwerpunkt auf Wälder gewesen zu sein. Ob er das hobbymäßig oder professionell betrieben hatte, vermochte Lina nicht zu sagen.
Aber seine Notizen bezogen sich nicht nur auf Rumänien. Die erste Seite handelte von den französischen Ardennen. Die schien nicht besonders interessant für ihn gewesen zu sein, da der Forscher nur einige wenige Worte für ihn übrig gehabt hatte. Danach schrieb er über einen Wald in Deutschland, den Harz. 27.03.1959, lautete das Datum in der rechten Ecke. Lina lächelte ein wenig, als sie ein paar vertraute deutsche Worte überflog.

Er hatte einige Begebenheit notiert, die zwischen Römern und Germanen, die sich um Jahr 253 nach Christus am Westrand des Harzes zugetragen hatte. Auch die Geschichte um die Brockenhexen, eines ursprünglich slawischen Volksglaubens, nahm einen großen Teil der Ausführungen ein. Einiges war leider nicht mehr leserlich und ausgebleicht. Darunter hatte er erneut fein säuberlich eine Skizze eines verkrümmten Baumes gezeichnet. Die Schattierungen von Stamm und Ästen ließen das Bild, obwohl es nur aus schwarzer Tinte gemalt wurde, erstaunlich echt wirken.

Nach dem Harzgebirge folgte wohl eine Reise nach Südamerika. Und wieder prangte ein krummer Baum auf dem verknitterten Papier. Der unterschied sich von den anderen Zeichnungen insofern, dass er aus riesigem Wurzelwerk gleich vier schiefe Stämme wuchsen. Die Seite war auf spanisch verfasst und das einzige Wort, aus dem Lina schlau wurde, war „Alma".
Alma bedeutete Linas Erinnerung nach „Seele". So hatte vor ein paar Jahren auch ein Mädchen in ihrer damaligen Klasse geheißen.

Wo die vorherigen Notizen eher spärlich geschrieben waren, nahmen die Worte über das rumänische Apuseni Gebirge mehrere Seiten ein. Lina kniff die Augen zusammen und begann, zu lesen. Je weiter sie kam, desto krakeliger wurde auch die Schrift. Immer wieder unterbrochen von getrockneten Wassertropfen, die ganze Zeilen ausgelöscht hatten.

HOJAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt