Ein neuer Morgen.
Der wievielte auch immer. Lina hatte mittlerweile jegliches Zeitgefühl verloren. Sie hätten seit einer Woche im Wald herumirren können oder auch seit einem Monat. Vielleicht noch länger.
Sie hätte nochmal einen Blick auf Finns Handy und die Datumsanzeige auf dem Display werfen können – aber letzten Endes war es auch einfach nur egal. Wen scherte es, ob sie heute den zwanzigsten oder den zehnten des Monats hatten? Dieses Wissen brachte sie keinen Schritt näher an die Zivilisation.
Ob Ihre Eltern inzwischen die Polizei verständigt hatten?
„Ich habe es meiner Tochter gleich gesagt! In diesem heruntergekommenen Land Urlaub machen? Man muss ja verrückt sein! Sicher wurde sie von einer kriminellen Zigeunerbande verschleppt! Aber Sie wollte ja nicht hören..... wie immer, eben!"
Lina hörte die zeternde Stimme ihrer Mutter im Kopf.
Dad hatte sich sicher noch tiefer in die Arbeit gestürzt als sonst schon. Das war immer seine Ablenkung gewesen. Wenn er sich in Akten und Zahlen vergrub, blendete er alles andere aus.
Und Daniel....war vermutlich der Einzige, dem ihr Verlust wirklich nahe gehen würde.
Lina lag auf der harten Matte ihres Zeltes und versuchte, sich den trauernden Gesichtsausdruck ihres kleines Bruders nicht in den Kopf zu rufen. Leichter gesagt, als getan.Vielleicht hingen ihre Bilder ja wirklich schon auf der Titelseite der Tageszeitungen. Mit einem Schauer stellte sich Lina ein Schwarzweiß-Foto von sich, breit und dämlich grinsend, auf einer der üblichen Klatschzeitungen vor. Was würden die Journalisten über sie schreiben?
„Junge Abenteurer im rumänischen Hinterland verschollen – Suche inzwischen erfolglos abgebrochen."
Draußen rumorte es. Kim war längst aufgestanden und Lina hörte ihre laute Stimme draußen mit Jennifer über irgendetwas diskutieren. Wie gehabt, also.
Sie hatte keine rechte Lust, aufzustehen. Ihr Rücken schmerzte und die verletzte Hand, der sie langsam wieder einen neuen Verband anlegen sollte, fühlte sich auch nicht sonderlich gut an.
Genausowenig wie ihre Beine.Vielleicht sollte sie einfach hier liegen bleiben.
Da pochte es gegen die Zelttür und nur Sekunden später steckte Finn den Kopf herein. Er wirkte genervt, aber lächelte, als er Lina ansah.
„Morgen. Gut geschlafen? Ich würde dir ja Kaffee anbieten, aber der ist leider alle. Obwohl ich bei dem Gezicke von den Beiden echt unbedingt einen verdammt starken Espresso bräuchte."
„Guten Morgen.", murmelte Lina. „Für einen Espresso würde ich jetzt echt töten." Sie streckte sich und strampelte die viel zu warme Decke beiseite.
„Schön. Dann fang am besten bei einer der zwei da draußen an." Das Lächeln in seinem Gesicht wurde breiter. Wie konnte er so ekelhaft fröhlich sein?Wenig später, als Lina sich die Zähne geputzt und das Zelt verpackt hatte, zeigte sich das Wetter ebenfalls fröhlich. Blauer Himmel, strahlender Sonnenschein. Kein Hauch von Nebel. Sie schnallte sich den Rucksack auf den Rücken und gesellte sich zu den anderen, die auch schon aufbruchsbereit waren. Kim sah besser als aus gestern Nacht. Sie hatte schwarzen Eyeliner und einen Hauch Lipgloss aufgetragen und wirkte in dem grauen Top und der engen Hotpants wie ein Sport Model. Sie warf Lina ein knappes, aber nicht unfreundliches „Guten Morgen." entgegen.
Jennifer sah im Gegensatz dazu aus, wie Lina sich fühlte. Blass, müde, deprimiert.
Aber es half ja alles nichts – sie mussten weiter.Finn hatte die Führung übernommen. Ob er sich überhaupt noch an die Karte hielt oder einfach nach Gefühl lief, konnte Lina nicht sagen. Wahrscheinlich kam es sowieso aufs Gleiche heraus. Die Umgebung war wie gewohnt. Steine, Felsen, unbegangener Grund. Und Bäume, immer wieder Bäume.
Nach Stunden, zumindest fühlte es sich so an, kamen sie an einem winzigen, dreckigen Tümpel vorbei, der kaum Wasser bot. Trotzdem füllten sie ihre Thermosflaschen mit der braunen Brühe. Lina überlegte, ob sie es wagen konnte, einen Schluck zu nehmen. Die Sonne brannte und der Durst war nur schwer erträglich.
Andererseits hatte sie definitiv keine Lust auf diverse Magen-Darm-Problemchen und so wartete sie geduldig, bis Finn einige Zeit später ein kleines Feuer entfacht hatte und sie die Flüssigkeit erhitzen konnten.
Der erste Schluck war ekelhaft. Er schmeckte nach der sandigen Heilerde, die ihre Mutter ihr manchmal eingeflößt hatte, wenn sie Sodbrennen gehabt hatte. Und das noch in heiß.
Aber der Durst wurde zumindest ein wenig gelöscht.
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HOJA
Misterio / SuspensoEine Wanderung in den endlosen Wäldern Rumäniens wird für vier junge Menschen zum absoluten Horror-Trip. Eine Gruselgeschichte pünktlich zur düstersten Zeit des Jahres. Das ist mein erster Roman, bitte seid nett ;))