Das Mädchen

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Wie auch die letzten Tage kühlte es immerhin zum Abend ein wenig ab. Es war noch immer warm und die Luft summte nur so von Insekten – aber sobald die Sonne sich verabschiedet hatte, fühlte man sich nicht mehr ganz so sehr wie in einem Bratofen. Sie schlugen ihre Zelte unweit des Flusses auf. Im Gegensatz zu den letzten Tagen fachte niemand ein Lagerfeuer an, sondern jeder verschwand ohne viele Worte in seinen Schlafsack.

Am nächsten Morgen erwachte Lina mit Schmerzen im Nacken. Als sie nach hinten fasste und über die schmerzende Stelle strich, zuckte sie unwillkürlich zusammen. Ihre Haut schälte sich ein wenig und jeder Berührung folgten äußerst unangenehme Stiche. Sie seufzte. Verdammt!

Obwohl Lina sehr hellhäutig und strohblond war, hatte sie in ihrem ganzen Leben kaum Probleme mit der Sonne gehabt. Als Kind konnte sie stundenlang Zeit in Seen oder im Freibad verbringen, ohne je einen Sonnenbrand zu bekommen. Im Gegensatz zu ihrem jüngeren Bruder Daniel, der nach fünf Minuten draußen schon aussah wie ein gekochter Hummer. Dani hatte sie immer ein wenig beneidet, wenn sie draußen im Sommer herumtoben konnte, während er lieber im Haus blieb, um den für ihn schmerzhaften Strahlen zu entgehen.

Langsam setzte Lina sich auf und begann, in ihrem Rucksack zu wühlen. Irgendwo musste doch... - ah! Die blaue Tube steckte in einer Nebentasche und Lina zog sie heraus. „Regeneration geschädigter Haut, juckreizlindernd und entzündungshemmend" versprach die Schrift auf der Verpackung. Sorgfältig, mit schmerzverzerrtem Gesicht, schmierte sie sich die kühle Creme auf gereizte Stelle. Die wirkte fast sofort und das Stechen ließ rasch nach.

Als Lina gepackt hatte und ihr Zelt verließ, herrschte – bis auf das monotone Rauschen des Flusses – Stille. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es gerade 7:30 Uhr war, viel zu früh eigentlich, um aufzustehen. Das schien auf diesem Ausflug zur Gewohnheit zu werden. Da der Schlafsack schon verräumt war und die Schmerzen, auch wenn sie gerade etwas abgeklungen waren, sie sowieso nicht nochmal schlafen lassen würden, stand sie unentschlossen auf dem Zeltplatz herum, bis sich schließlich ihre Blase meldete.

Nur wenige Meter entfernt lag ein kleines Wäldchen aus Schwarzkiefern, deren Äste sich kaum sichtbar im morgendlichen Windhauch bewegten.

Sie erleichterte sich und genoss die leichte Kühle, die die Schatten der Bäume warfen. Gegen Mittag würde es wieder heiß werden und Lina beschloss, heute besser auf ein Trägertop zu verzichten und stattdessen ein hochgeschlossenes T-Shirt zu tragen. Der Schmerz im Nacken war zwar ein wenig abgeklungen, aber würde sicher bald zurückkehren.
Gerade, als sie sich aufrichten wollte, hörte Lina ein scharrendes Geräusch. Eine Sekunde blitzten Bilder von riesigen, schwarzen Bären vor ihrem inneren Auge auf und ihre Herz begann, schneller zu schlagen. Doch die Ursache des Scharrens war kein Tier:

Lina sah kastanienbraunes Haar, das zu einem langen Zopf geflochten war und große tiefdunkle Augen, die sie musterten. Das Mädchen, sie musste etwa sieben sein, vielleicht acht, stand regungslos neben einer großen, knorrigen Kiefer und starrte Lina an. Sie war gekleidet in erdfarbenen Tücher und hatte einen hölzernen Flechtkorb in der einen Hand. Es erinnerte Lina an die alten tschechischen Märchenfilme, die sie als Kind immer sonntags bei ihrer Großmutter gesehen hatte.

„Hallo!"

Linas Stimme klang viel zu laut für ihre Ohren. Doch das Mädchen reagierte nicht, starrte nur weiterhin. Jetzt verfluchte Lina sich, dass sie sich nicht ein paar einfache Sätze auf rumänisch hatte einprägen können. „Alles okay? Alles...gut?" Sie gestikulierte ein wenig mit den Händen, aber ihre stumme Gesprächspartnerin blieb auch weiterhin reglos.

Vielleicht stammte das Kind aus einem Bergdorf in der Nähe und sie waren der Zivilisation ganz nah? Dieser Gedanke ließ ihr Herz freudig klopfen.

Lina machte einen Schritt auf das Mädchen zu und setzte ein beruhigendes Lächeln auf. Die Kleine wirkte recht mitgenommen, wie ihr jetzt auffiel. Die Tücher verdeckten einen äußerst dürren Körper und die hohen, sehr schmalen Wangenknochen verliehen dem Gesicht einen knochigen Ausdruck.

Lina hätte den Rucksack mitnehmen sollen! Der lag auf dem Zeltplatz, mit einigen  Schokoriegeln darin. Ob das Kind überhaupt schonmal Schokolade gesehen hatte? 

Sie deutete mit dem Finger auf sich. „Lina." Nachdem auch weiterhin keine Reaktion kam, zeigte sie auf das Kind. „Und du?"

Starren.

Langsam wurde Lina ungeduldig. Selbst wenn das Mädchen sie nicht verstand, zumindest irgendeine Regung könnte sie doch wirklich zeigen. Oder war sie womöglich geistig unterentwickelt? „Ich gehe jetzt.", sagte Lina und deutete auf sich und in Richtung der Zelte. „Dort gibt es etwas zu essen. E-s-s-e-n!" Sie schob sich ein imaginäres Sandwich in den Mund und tat, als würde sie kauen. Endlich kam Bewegung in das Mädchen. Sie riss die Augen so weit auf, dass sie ein Stück hervortraten. Es wirkte beinahe surreal. Das arme Ding hatte womöglich schon länger nichts mehr im Magen gehabt.

„Lina?"

Erschrocken fuhr sie herum und sah Chris ein paar Baumreihen entfernt auftauchen. Er starrte sie an, während er sie zukam. Äste knackten, als er über sie hinwegtrat. „Mit wem sprichst du?"

„Gute Neuigkeiten!", Lina gab ihm ein Handzeichen, sich zu beeilen. „Ich glaube, wir haben einen schnelleren Weg in die Zivilisation gefunden. Die Kleine kann uns bestimmt zu ihrem Dorf bringen. Aber zuerst sollten wir ihr was zu Essen geben."

Chris Stirn wölbte sich. „Hä? Was redest du eigentlich?" Er klang mehr als verwirrt.

„Wenn sie uns zu ihren Eltern bringt, dann -"

Lina drehte sich zu dem kleinen Mädchen herum – und erstarrte. Die Stelle, wo es eben noch gestanden hatte, war leer.
„Hey!", rief sie. „He, wo bist du? Du brauchst keine Angst haben!" Sie wandte sich wieder an Chris, der jetzt vor ihr stand und sie mit seltsamen Ausdruck im Gesicht anstarrte. 
„Da war ein Kind. Ein kleines Mädchen.", murmelte sie.

„Kind? Was für ein Kind? Hier ist niemand.", erwiderte er. „Das hast du dir bestimmt eingebil-"

„Ich hab mir das nicht eingebildet!", sagte sie mit mühsam beherrschter Stimme. „Da war ein Mädchen, ein kleines Mädchen. Da unter dem großen Baum!"

Chris kratzte sich am Kopf und sah aus, als würde er überlegen. „Also...ich habe gesehen, wie du Selbstgespräche geführt hast. Dachte erst, du willst mich verarschen. Aber da war bestimmt kein Kind. Sicher, dass es dir gut geht?"
Lina starrte ihn an. „Was?? Willst du mich verarschen? Ich weiß genau, was ich gesehen hab!"
Er hob die Hände, eine abwehrende Geste. „Okay. Verstehe. Da war also ein Kind. Ein Mädchen. Ich stand ein paar Schritte hinter dir und hab absolut nichts gesehen. Wo soll sie den hingerannt sein?"

Beim Anblick seines ratlosen Gesichtsausdruckes kamen Lina langsam doch Zweifel in dem, was sie erlebt hatte. Konnte sie sich das Ganze wirklich eingebildet haben? Schon wieder?? Die schwarzen Pupillen des Mädchens brannten vor ihrem inneren Auge. Es war so real gewesen, so echt. Wie vorgestern Nacht. Oder wurde sie langsam verrückt? Weichte die Hitze langsam ihr Gehirn auf?

Als Chris wieder sprach, riss sie sich aus ihren Gedanken los. „Du hast die Tage kaum was gegessen. Dazu die Hitze. Vielleicht ein Sonnenstich, da können Halluzinationen schon mal vorkommen. Ich würde sagen, wir gehen jetzt zurück zum Zeltplatz, frühstücken und nachher lassen wir es ganz langsam angehen. Ist dir schlecht?"

Sie schüttelte nur den Kopf.

Nebeneinander gingen sie zwischen den Bäumen entlang und Lina erblickte Kim und Matthias, die neben ihren Zelten hockten und jeweils einen Thermobecher dampfenden Kaffee in den Händen hielten. Das war es, was sie jetzt brauchte. Weder sie noch Chris sprachen das Erlebnis noch einmal an, aber Lina konnte sehen, dass der ihr immer wieder Blicke zuwarf. Wahrscheinlich dachte er wirklich, sie wäre verrückt geworden.

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