Ärger

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Als Lina sich mit schweren Armen aus den Klamotten schälte, rutschte das schwarze Büchlein, das sie dem Toten im Berg gezogen hatte, aus ihrer hinteren Hosentasche. Einige Sekunden hielt sie es in der Hand und der Geruch nach altem, feuchten Papier stieg ihr so stark in die Nase, dass es sie würgte.

Dennoch schlug sie den Einband auf und starrte auf das ausgeblichene Gekritzel. Oh Mann. Der Forscher hatte nicht gerade Schönschrift betrieben. Die Buchstaben standen winzig, schief und eng beieinander und machten es schon in nüchternem Zustand nicht leicht, daraus zu lesen.

Lina blätterte vorwärts und je weiter sie kam, desto krakeliger wurden auch die einzelnen Worte.

Auf einer Seite blieb sie länger hängen. Dort hatte der Autor ein ziemlich lebensechtes Bild eines Baumes skizziert. Der Stamm hatte eine merkwürdige Form, wie ein halbes O. Unten normal, dann machte er eine Biegung – und fand am oberen Ende wieder in eine normale, gerade Form zurück.
Daneben standen einige Wörter, die Lina als spanisch oder italienisch einschätzte. Hätte sie doch nur Internet!
In ihrem Kopf rauschte es höllisch, und das kam nicht nur vom Alkohol. Ihre Gedanken waren viel zu wirr, als dass sie sich jetzt auf das Buch konzentrieren könnte.
Aber spätestens, wenn sie morgen im Flugzeug Richtung Heimat saßen....
Sie legte das Buch beiseite, schlüpfte in ein leichtes Nachthemd und schloss die Augen.




-

„DAS hätte ich euch auch gleich sagen können!"

Die extrem abschätzig klingende Stimme drang in Linas Hirn, noch ehe sie wirklich wach war.Und sie machte ihr stechende Kopfschmerzen.

„Werd wach, verdammt!!"

Sie schlug die Augen auf und sah ein Gesicht vor sich. Jennifer, trotz dass sie kein Makeup trug, sah aus wie eine schöne Barbiepuppe. Eine sehr schlecht gelaunte Barbiepuppe.
„Was ist?", murmelte Lina und schloss die Augen wieder, zu sehr brannte das helle Morgenlicht.

„Ich will wissen, wo verdammt nochmal Mike ist!"

„Komm mal wieder runter, Jen. Du siehst doch, dass er nicht bei ihr ist." Eine weitere Stimme. Dunkler und bemüht ruhig.

„Natürlich ist er nicht da drin!" Jen lachte laut und humorlos. „Ein bisschen Würde hat er ja doch noch!"

Lina stöhnte und richtete sich dann doch auf. Sie fühlte sich elend. Und als ihr der gestrige Abend einfiel, verschlechterte sich ihr Zustand noch.
„Was meint ihr damit?", fragte sie und bemühte sich, einigermaßen wach zu klingen.

„Was soll ich schon damit meinen? Mein Freund war heute nicht in seinem gottverdammten Zelt! Du und deine tollen Freunde seid die letzten, die ihn gestern Nacht gesehen haben. Also, was ist passiert?"
Jennifer sprühte beinahe Funken vor Zorn und das sonst so hübsche Gesicht hatte sich zu einer fiesen Fratze verzogen.

Lina runzelte die Stirn. Sie hatte Mike am Lagerfeuer sitzen sehen. Dann hatte sie sich in ihr Zelt verzogen, war die gefühlte Nacht wach gelegen und hatte sich den Kopf über Kim und Matthias zerbrochen. Und insgeheim auf irgendwelche verräterischen Geräusche gelauscht.

Finn legte Jennifer eine Hand auf die Schulter, die diese aber sofort abschüttelte. „Komm schon Jen, es wird schon nichts passiert sein. Vielleicht ist er nur...vielleicht macht er einen entspannten Morgenlauf."
„Dann hätte er mich vorher gefragt!", schnaubte die. „Außerdem glaube ich nicht, dass er die Nacht in unserem Zelt war. Sein Schlafsack sah unbenutzt aus."
Wenn Lina sich nicht irrte, konnte sie ein verräterisches Glänzen in Jennifers Augen sehen. Sie schien wirklich besorgt zu sein. 

Lina atmete einmal tief durch und erzählte dann kurz von den Geschehnissen der letzten Nacht. Einige Sachen wie Mikes dumme Sprüche sparte sie sich verständlicherweise aus. Sie wollte Jennifer nicht noch mehr reizen.

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