„Das gibts doch nicht!". Chris trat mit dem Fuß gegen den Stamm der Tanne, sodass sie gleich noch mehr Nadeln vom Geäst verabschiedeten. „Wir sind doch nicht blind! Da war jemand!"
Ein schwarzer Fleck an der unteren Felswand und der kaputte Baum – beides Beweise für den Blitzeinschlag. Aber waren die Wanderer schlicht Einbildung gewesen?
„Vielleicht fördern Gewitter Halluzinationen?", sagte Kim, die die letzten Minuten ungewohnt still gewesen war. „Die Spannung, die in der Luft liegt, könnte zu Einbildungen führen. Oder die plötzliche Temparaturveränderung. Ich hab eine Freundin, die bei Gewitter immer extremst schlimme Migräne mit Hallus bekommt. Kann ja sein, dass es bei uns ähnlich war?"
"Vielleicht....", murmelte Matthias, sah aber noch immer so irritiert aus, wie Lina sich fühlte.
Mit einem letzten Blick auf die leere Stelle liefen sie zu ihrem Unterstand zurück und packten. Es herrschte großes Schweigen, jeder hing seinen Gedanken nach.
Lina war heilfroh, dass ihr der Anblick verbrannter Menschen erspart geblieben war. Trotzdem...das Ganze war seltsam. Sie sah die Hand mit dem roten Jackenärmel noch genau vor sich? War das eben tatsächlich eine Massen-Halluzination gewesen?Als sie sich wenig später auf den Weg gemacht hatten, sie die warmen Sonnenstrahlen auf der Haut spürte, die ihre Haare und Klamotten schnell trockneten und Chris ein ziemlich schiefes und nicht ganz jugendfreies Wanderlied angestimmt hatte, hellte sich ihrer aller Stimmung merklich auf und die mysteriöse Stimmung von vorhin verschwand.
Wo die Wege zuerst relativ eben und flach waren, wurde es inzwischen merklich hügeliger und steiniger. Die Wiesen mit blassvioletten Blumen, Ziegen und Schafen verschwanden und immer mehr graues Gestein tat sich vor ihnen auf, immer wieder unterbrochen von ein wenig Grün.
„Jetzt seht ihr die Siebenbürger Westkarparten von nahem.", sagte Matthias, der ganz vorne lief. „Der größte Berg hier ist 1800 Meter hoch. Also eher ein Hügel als richtiges Gebirge. Aber das tut der Schönheit keinen Abbruch. Größe ist eben nicht alles."„Könnte ich das Problem haben, da oben höhenkrank zu werden?" Kims Blick war argwöhnisch auf das bergige Gelände vor ihnen gerichtet. Obwohl sie mittlerweile sicherlich zwei Stunden ohne Pause gelaufen waren und es wieder richtig heiß geworden war, sah sie aus wie frisch geduscht. Selbst ihre sorgfältig manikürten, und für die Wanderung eigentlich viel zu langen, Nägel wirkten absolut gepflegt, wie Lina nicht ohne Neid bemerkte.
Matthias lachte nur. „Keine Angst. Erst ab 2500 Meter geht es los mit der Höhenkrankheit. Hier musst du absolut nichts befürchten. Höchstens, wenn du schwanger oder herzkrank wärst."
Der Regen vorhin hatte den Boden aufgeweicht und trotz, dass die Sonne mit voller Kraft strahlte und es sicher 30 Grad hatte, war er noch nicht ganz trocken, sondern rutschig und feucht. Es ging mittlerweile ziemlich steil bergauf und Lina wagte es kaum, einen Blick nach links oder rechts zu richten. Zu beiden Seiten ging es tief hinab ins Tal und sie betete, dass niemand von ihnen auf dem nassen Geröll ausrutschen und nach unten fallen würde.
Die vier hatten sich behelfsmäßige Wanderstöcke aus langen Ästen zugelegt, um besseren Halt zu finden. Kurz, bevor die Dämmerung einsetzte, hatten sie den Aufstieg endlich geschafft und waren auf einem grasbedeckten, großen Plateau angekommen. Lina traute ihren Augen kaum, als nur ein paar Meter weiter eine Herde Kühe zum Vorschein kam. Die Tiere standen auf der felsigen Hochwiese und ließen sich nicht von den vier Menschen stören, die gerade keuchend und erschöpft ihr Revier erreicht hatten.
Diese Nacht schlief Lina erschöpft ein, kaum, dass sie sie den Schlafsack bis zum Kinn gezogen hatte.Am Morgen wurde sie von lauten Kuhglocken geweckt.
Einen kurzen Moment dachte sie, sie wäre sieben Jahre alt und würde sich auf dem Bauernhof ihrer Großmutter in Garmisch-Partenkirchen befinden – früher hatte sie ihre Sommerferien meistens dort verbracht. Doch dann schlich sich die Wirklichkeit ein. Rumänien. Die Karpaten.
Das Glockengebimmel wurde plötzlich von einem lauten Schrei und dann von wütenden Stimmengewirr begleitet.
„Du bist SO ein verdammter Idiot!", hörte sie Kims sich überschlagende Stimme, unterbrochen von Gelächter.
Draußen bot sich ihr ein wüstes Bild. Das blaue 2-Mann Trekkingzelt von Chris sah ziemlich mitgenommen aus. An der einen Seite hatten sich die Heringe gelöst und die Zeltwand war ganz schief und eingedrückt.
Kim stand einige Schritte daneben und funkelte ihren Freund an, der im Gegensatz zu ihr äußerst belustigt aussah.

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HOJA
Mystery / ThrillerEine Wanderung in den endlosen Wäldern Rumäniens wird für vier junge Menschen zum absoluten Horror-Trip. Eine Gruselgeschichte pünktlich zur düstersten Zeit des Jahres. Das ist mein erster Roman, bitte seid nett ;))