Der Abend brachte kaum Abkühlung. Aber zumindest die grelle Sonne verzog sich, und ein ungewöhnlich großer, runder Mond nahm ihren Platz ein.
Lina hatte den Kopf zur Zelttür herausgestreckt, lag flach da und starrte nach oben in den Himmel. Keine Wolke verdeckte ihn und die Sterne lagen so deutlich und stark vor ihren Augen, wie sie es noch nie gesehen hatte. Unter anderen Bedingungen hätte Lina die Szene wunderschön gefunden, zuhause stand sie gerne auf ihrem kleinen Balkon und betrachtete die einzelnen Sternbilder, aber jetzt konnte sie sich auf nichts konzentrieren. In ihrem Kopf rasten noch immer Matthias Worte und die ihren umher. Vielleicht, wahrscheinlich sogar, machte sie sich zu viele Gedanken. Matthias war hier schon gefühlte tausende Male gewandert.
Dann hatte er sich eben dieses eine Mal verschätzt. Das konnte jedem passieren. Sie würden einfach den Weg zurückgehen, den sie gekommen waren. Und wenn es ein, zwei Tage länger dauern sollte, nicht tragisch. Sie hatten Wasser aus dem Bach und konnten zur Not Beeren pflücken. Oder Baumrinde essen. Zumindest hatte sie das einmal in einer „Überleben im Wald" - Reportage gesehen.
Kim hatte, als Lina das letzte Mal nachgesehen hatte, auch wieder fitter gewirkt. Sicher halfen die Tabletten und wenn sie heute alle in Ruhe durchschlafen würden, konnten sie morgen mit neu gewonnener Kraft losziehen.Ein paar Stunden später wurde sie unsanft durch Klopfen an der Zeltwand und einer laute Stimme geweckt. „Steh auf! Wir wollen gleich los!", rief eine ungeduldige Stimme von draußen.
Nicht einmal für einen Kaffee blieb Zeit, als Lina kurz darauf ihren Rucksack schulterte und die vier sich auf den Weg machten.
Matthias stützte Kim, die zwar tatsächlich um einiges besser aussah, als noch gestern,aber noch immer angeschlagen wirkte. Ihre spitze Zunge hatte sie allerdings wiedergefunden. Die richtete sich vorallem gegen Chris.
Er tat Lina irgendwie leid, wie er da hinter ihnen hertrottete und giftige Blicke zwischen seiner Freundin und Matthias hin und her warf. Andererseits musste man eben auf Drama stehen, wenn man mit einer Frau wie Kim zusammen war.
Sie waren dem Fluss gefolgt, bis er schmaler wurde und sie ihn problemlos durchwaten konnten. Das war vor nicht einmal einer halben Stunde gewesen und Linas schwarzes Top und die kurze Hose waren schon wieder völlig getrocknet. Die Hitze war wirklich erbarmungslos und Lina konnte sich nicht mehr vorstellen, je wieder so etwas wie eine Jacke tragen zu müssen.
Sie träumte sich nach Schweden. Oder nein, Kanada, in eine verschneite Einöde. Eine Holzhütte, ganz klischeehaft mit ausgestopften Elchkopf über der Tür und einem steinernen Kamin, den man anschürte, weil es draußen enorme Minusgrade hatte. Beinahe konnte sie das Feuer riechen und die Scheite knacken hören.
Das schöne Fantasiebild löste sich jedoch abrupt auf, als Kim vor ihr abrupt stehen blieb.„Was ist das?"
Ihre Stimme klang angeekelt.
Lina sah zuerst die Fliegen.
Ein ganzer Schwarm. Schwarze, fette Pünktchen schwirrten über einem braunen, irgendwie schwammigen Ding am Boden.Der Geruch war geradezu atemberaubend.
„Das ist ein Hirsch.", presste Matthias zwischen zusammengebissenen Lippen heraus. „Liegt wohl schon eine Weile."
Bei näherem Hinsehen konnte Lina das trockene, dunkle Geweih erkennen. Es war mächtig. Genau wie das Tier daran. An einigen Stellen pickte getrocknetes Blut, zusammen wie etwas, das wie vergammelte Eingeweide aussah.
Kim gab etwas von sich, dass wie ein Kotzgeräusch klang und wandte sich rasch ab, die anderen blieben stehen und betrachteten das tote Tier.
Ein Auge stand glanzlos offen, umgeben von schimmernden Fliegen, und stierte die drei direkt an.„Schon der zweite...", murmelte Matthias leise, wie zu sich selbst.
Chris runzelte die Augenbraun. „Wie - der zweite? "
Lina konnte beinahe sehen, wie Matthias innerlich fluchte. Er machte eine werwerfende Handbewegung und erwiderte: „Ach...damals im Wald, bei dem See, habe ich schonmal einen Kadaver gefunden. "
„Aha. Und wann hattest du gedacht, uns davon zu erzählen?" Chris' Stimme war plötzlich kalt.„Ach komm, Chris. Sowas passiert in der Wildnis. Hätten wir bei jedem toten Tier erstmal ein Staatsbegräbnis abhalten sollen, oder was?"
„Äh, Nein? Aber du hättest die Fresse aufmachen können und uns netterweise mitteilen können, dass ein paar Meter neben unseren Zelten ein zerfleischtes Tier liegt. Wenn etwas es problemlos schafft, so einen riesigen Hirsch zu reissen, dann kann es das auch bei Menschen machen, weißt du? Und ich hab wirklich sehr wenig Lust, als Bärenfutter zu enden!"
Matthias seufzte. „So weit waren wir schonmal. Es gibt in Rumänien keine Bären, die -"
Weiter kam er nicht, denn Chris schlug sich gegen die Stirn und verdrehte die Augen. „Fang jetzt nicht schon wieder mit deinem "Ich erkläre euch die Tierwelt „ - Scheiss an. Du laberst seit Tagen heiße Luft, führst uns ans Ende der Welt, machst dich an meine Freundin ran und jetzt kommt auch noch raus, dass du uns ins Nirgendwo laufen lässt, während hier irgendwelche blutrünstigen Viecher unterwegs sind? Du bist doch echt ..... "
Chris konnte seinen vermutlich nicht sehr freundlichen Satz nicht vollenden, denn Kim, die noch immer hinter ihnen stand, ließ einen Schrei hören.
Alle Köpfe fuhren zu ihr herum.
Kim stand ein paar Schritte vom Rande eines kleines, felsigen Abgrundes und starrte in die Tiefe.
„Leute? Seht ihr das, oder hab ich wieder Hallus??", rief sie mit vor Aufregung piepsiger Stimme.Lina folgte ihrem Blick und ihr Herz begann, schneller zu schlagen.
Ein großartiger Ausblick lag vor ihnen. Man konnte von hier aus weit über das Panorama des Apuseni-Gebirges blicken. Hohe Felsen, grüne Bäume – und ein paar winzige Figuren, die sich bewegten.„Da sind Menschen!", sprach Kim aus, was alle sahen.
Nie hätte Lina gedacht, dass der Anblick irgendwelcher völlig fremder Leute sie dermaßen glücklich machen konnte. Sie würden hier rauskommen. Sie waren nicht mehr allein.
„Wenn wir den Weg runter nehmen, müssten wir die Gruppe ungefähr in eineinhalb Stunden erreicht haben. Fühlen sich alle imstande, ein bisschen zu klettern?", fragte Chris mit einem kurzen Seitenblick auf Kim. Er blickte auf eine felsige Fläche vor ihnen, in der man mit viel Fantasie einen Weg erahnen konnte. „Das ist steil, aber ganz gut machbar, schätze ich."„Aber wir weichen von unserem Weg ab, wenn wir dort runter gehen!", warf Matthias ein. „Und da unten kann ich nicht dafür garantieren, dass wir den Weg zurück finden. Ich halte das für keine gute Idee.„
„Einwand stattgegeben.", erwiderte Chris. „Ich halte es aber für eine absolut hervorragende Idee. Die Typen da unten können uns weiterhelfen. Und wie du dich auskennst, haben wir die letzten Tage gemerkt – nämlich gar nicht. Also. Wer ist dafür, dass wir da runtersteigen?"
Chris hob die Hand, Kims fuhr ebenso schnell hoch, auch wenn sie Matthias einen entschuldigenden Hündchenblick zuwarf. „Sorry, Matt...."
Lina wog die Situation innerlich ab. Da unten waren Menschen. Menschen, die sie sicherlich zurück in die Zivilisation führen konnten. Selbst, wenn man womöglich nur mit Hand und Fuß kommunizieren konnte. Aber sie waren nicht nah. Die eineinhalb Stunden von Chris waren großzügig berechnet und der Weg nach unten sah nicht gerade wahnsinnig einfach aus. Gerade nicht mit Kim, die immer noch ziemlich angeschlagen wirkte. Und was, wenn die Leute so schnell weiterzogen, dass sie sie verpassen würden? Andererseits sah es aus der Ferne aus, als wären es Felswandkletterer und die hingen meistens einige Stunden an den Bergwänden herum.
Außerdem, das musste Lina sich eingestehen, war ihr Vertrauen in Matthias Orientierung ein wenig angeschlagen. Auch, wenn sie ihm das nie im Leben so krass unter die Nase reiben würde wie es Chris eben getan hatte.
Ehe sie großartig weiter denken konnte, hob sich Linas Hand. Ein kleiner, unsicherer Fingerzeig. Aber er reichte, um Matthias zu überstimmen. Der seufzte nur und zuckte mit den Schultern.
„Okay. Ab jetzt liegt das alles nicht mehr in meiner Verantwortung."
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HOJA
Mystery / ThrillerEine Wanderung in den endlosen Wäldern Rumäniens wird für vier junge Menschen zum absoluten Horror-Trip. Eine Gruselgeschichte pünktlich zur düstersten Zeit des Jahres. Das ist mein erster Roman, bitte seid nett ;))