Boys of Summer

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Chris saß am Steuer und fummelte an dem Radio herum. Auf den meisten Sendern hörte man nur für sie alle unverständliches, rumänisches Gerede, doch schließlich fand er einen Kanal, auf dem Rock Oldies liefen.

„Nobody on the road,

Nobody on the beach.

I feel it in the air,

The summer's out of reach.

Empty lake, empty streets,

The sun goes down alone. „,

sang Don Henley blechern. Der Empfang wurde immer schlechter, je weiter sie sich der Kleinstadt mit Bahnhof entfernten. Wo die Straßen zum Anfang hin noch einigermaßen eben und gut befahrbar waren, änderte sich das von Kilometer zu Kilometer. Auch die Landschaft veränderte sich. Brauner Sandstein wurde zu grauen Felsen und grünen Bäumen.
„Viel besser als Bahnfahren!" Kim saß auf der Rückbank, ihr Fenster weit geöffnet und eine Sonnenbrille, die so riesig war, dass sie ihr halbes Gesicht bedeckte, auf der Nase. „Auch wenn die Straßen genau so holprig sind wie die Schienen. Wie lang fahren wir jetzt?"

Matthias, der am Steuer saß, warf einen Blick auf das Navigationsgerät. „Wir brauchen noch eine gute Stunde nach Mărişel, dann parken wir und gehen zu Fuß weiter, wo wir nach kurzem Fußmarsch das Apuseni-Gebirge erreichen sollten. Das ist ein Naturreservat, in dem man ganz ausgezeichnet wandern kann. Wiesen, Wälder, Wasserfälle und Schluchten, soweit das Auge reicht. Das Gebiet ist touristisch ziemlich unerschlossen, also wenn man Natürlichkeit und unveränderte Natur will, ist das ein perfektes Ziel. Die Berge dort sind auch nicht sehr hoch. 1800 Meter höchstens. Also sollten auch die untrainierten unter uns locker mitkommen.

„Gibt es da oben eigentlich Bären?", ließ Chris vom Beifahrersitz aus hören. „Meine Lust, als Bärenfutter zu enden, während meine Leiche in diesem unerschlossenen Gebiet vermutlich nie gefunden wird, ist nämlich eher gering."
„Es gibt Braunbären in Rumänien. Aber die sind harmlos, wenn man keinen Mist baut. Gefährlich sind eher Grizzlies, aber die gibt es hier in Europa nicht.", erwiderte Matthias. „Vor Tieren brauchst du hier keine Bedenken zu haben, eher davor, von einem der Schluchten da vorne zu stürzen."

Und ja - das Apuseni-Gebirge, das sich vor ihnen auftat, war gigantisch - und unheimlich weitläufig. Grüne Berge, wohin das Auge reichte.
„Wow!", hauchte Lina. „Das sieht aus wie Kanada! Sicher, dass wir noch in Rumänien sind?"
Nur Kim schien sich von der allgemeinen Begeisterung nicht ganz anstecken zu lassen. In der einen Hand hatte sie ihr unbrauchbares Smartphone, in der anderen ihren pinken Trekking-Rucksack. Die grünen Katzenaugen auf die Bergketten vor ihnen gerichtet. „Was, wenn wir verloren gehen? Ich mein - das ist unerschlossenes Gebiet. Vielleicht begegnen wird keiner anderen Menschenseele. Und was ist, wenn einer von uns wirklich verletzt wird? Den können wir ja kaum den ganzen Weg tragen."

Matthias lächelte sie beruhigend an. „Keine Angst. Wir werden hier genug Touristen begegnen, unsere Strecke schließt eine beliebte Wanderroute mit ein. Zwar sind hier sicherlich nicht so viele Leute unterwegs wie zum Beispiel in den Alpen, aber völlig alleine ist man hier auch nicht. Außerdem haben wir Kompasse und GPS. So wie in diesen üblichen Survival-Horrorfilmen wird es bei uns bestimmt nicht enden."
Kim warf ihm nur einen Blick zu, der halb Besorgnis, halb Zuversicht ausstrahlte.
Die Autofahrt erschien Lina mit Abstand kürzer als die Bahnfahrt. Wohl, weil es in dem Wagen um einiges komfortabler war und es hier drin nicht nach Schweiß und anderen... Ausdünstungen roch.

Als sie Mărişel, ein hübsches Dorf mit kleinen, von einer Menge großer Tannen umsäumten Häuschen, erreichten, fuhr Chris das Auto auf einen kleinen Parkplatz. Das Radio verstummte und einen Moment sagte niemand etwas. Ihre Augen waren auf das eindrucksvolle Bergpanorama gerichtet, das sich vor Ihnen auftat. Gebirge und Wälder, hin und wieder unterbrochen von blauen Seen. Neben Lina klickte es, Kim hatte Ihre Spiegelreflexkamera gezückt und schoss aus dem Wagenfenster heraus ein paar Fotos.
„Das ist noch garnichts.", sagte Matthias, mit Blick auf die Landschaft. „Wenn du inmitten der Berge stehst, wird dich der Ausblick total umwerfen."

Gleich darauf wurden Rucksäcke und Taschen geschultert und mit einem letzten Blick auf den Wagen machten sich die vier auf den Weg. Ein schmaler Trampfelpfad führte in Richtung Westen.
Das Wetter war großartig. Die Hitze hatte ein wenig abgeschwächt und eine leichte Brise, die die Baumgipfel träge schwingen ließ, brachte den Wanderern Erfrischung.

Und der blaue, wolkenlose Himmel bot schier kilometerweite Sicht.

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