Es würde dauern, bis sie eine Grube ausgehoben hatten, die tief und breit genug war, um einen menschlichen Körper darin zu versenken. Gerade, wenn man außer einer kleinen Axt und einem alten Bundeswehr-Klappspaten kein Werkzeug zur Verfügung hatte.
Matthias und Finn übernahmen die Aufgabe und waren schon nach zwanzig Minuten schweißgebadet. Jennifer hatte ihren Platz bei Hexe nicht verlassen und hielt das Mädchen noch immer im Arm.
Lina wollte sich nicht aufdrängen. Anscheinend war das Jennifers Art, die Trauer zu bewältigen.Sie hatte sich in ihr Zelt zurückgezogen und damit begonnen, ihre Hand zu verarzten. Nach einer Weile gesellte sich Chris zu ihr. Er sah aus, wie Lina sich fühlte. Bleich, tiefe Augenringe. Sogar seine sonst so sorgsam gestylten Haare wirkten platt und sogar ein wenig fettig.
„Wow, das sieht echt gruselig aus, Mann!",
waren seine ersten Worte seit längerem gewesen, als er Linas Wunde betrachtete.
Es war eine unschöne Angelegenheit. Der Nagel ihres Zeigefingers hatte sich verabschiedet und sie musste sich zusammenreißen, um nicht aufzuschreien, als sie das Shirt abgenommen hatte. Die ganze Haut war noch immer rot und hatte Blasen gebildet. Das musste mindestens eine Verbrennung zweiten Grades sein.
Dabei konnte sie noch froh sein, dass es nur ihre linke Hand getroffen hatte und nicht die wichtigere rechte.
Chris riss sie die Verpackung eines sterilen Verbandstuches auf. Unter anderen Umständen hätten sie die Wunde unter kaltem Wasser gekühlt, aber das war gerade nirgendwo erreichbar. Rasch trug sie die Salbe gegen Verbrennungen auf, die sich in dem Erste Hilfe Pack befand und stöhnte bei jeder Berührung mit der kaputten Haut auf. Dann legte Chris mehr oder weniger fachmännisch den Verband an.
Das fertige Werk sah einigermaßen sinnvoll aus und fühlte sich besser an. Probehalber bewegte sie ihre Finger ein wenig und zuckte bei dem Schmerz zusammen.
„Immerhin ist nichts gebrochen.", sagte Chris.
„Oh ja, das ist natürlich richtig hilfreich.", antwortete Lina lakonisch. Jetzt, wo die Wunde gesäubert und verbunden war, fühlte sie sich etwas besser. Auch, wenn der Schock mit Hexe tief in den Knochen saß.„Wie schaffst du es, nicht durchzudrehen?"
Chris klang plötzlich ungewöhnlich ernst. „Ich mein...das hier sind die beschissensten Tage meines ganzen Lebens und da zähle ich den Rausschmiss aus meinem Fußballmannschaft und die Scheidung meiner Eltern mit hinein. Und als wir Mike und so gefunden haben, dachte ich echt, die Scheiße hier hätte ein Ende und wir würden in ein paar Stunden im Flugzeug Richtung München sitzen. Und jetzt...jetzt ist alles nur noch schlimmer geworden. Echt Lina, ich halt es nicht aus. Ich glaube, ich kann einfach nicht mehr."
Lina wusste nicht, was sie mehr irritieren sollte. Dass Chris sich ausgerechnet ihr anvertraute – immerhin hatten sie nie irgendwelche besonderen Berührungspunkte gehabt, geschweige denn, dass sie befreundet wären. Oder, dass er seine sonst so coole Fassade abgeschüttelt hatte und gerade richtiggehend verletzlich wirkte.
Irrte sie sich, oder glänzten seine Augen verräterisch?„Keine Ahnung, Chris. Innerlich drehe ich die ganze Zeit rund. Aber hilft ja nichts. In Horrorfilmen sind diejenigen, die außer Kontrolle geraten, doch immer die ersten, die draufgehen, oder?", sagte sie und lächelte schwach und humorlos.
„Keine Ahnung - ich schaue eigentlich keine Horrorfilme.
Das ist eher Kims Ding.", erwiderte der.Lina hob die Brauen. „Ernsthaft? Unsere Kim steht auf Horrorfilme?" Sie konnte sich nicht im Geringsten vorstellen, wie Kim mit pinken Plüschkartoffeln zuhause auf dem überteuerten Designersofa saß, Popcorn aß und sich „Halloween – Die Nacht des Grauens" ansah. Da trafen zwei Welten aufeinander.
„Ja, ernsthaft. Ist total ihr Ding. Würde man nicht denken, wenn man sie nicht näher kennt. Deswegen ist sie auch mitgekommen. Wegen Schloss Dracula und so. "
„Wow. Ich dachte ehrlich gesagt eher, du hättest sie dazu gezwungen." Lina schüttelte den Kopf.„Ja..... Nein. Oh Mann.„, Chris griff sich an den Kopf und massierte seine Schläfen. „Und jetzt befinden wir uns einem Live - Horrorfilm. Ohne Ausweg und Fluchtmöglichkeit. Kim hasst mich. Und oh, ach ja – mindestens ein Mensch ist gestorben. Und wir laufen durch ein verdammtes Labyrinth. Langsam denke ich, Kim hatte recht. Der Wald ist verhext."
Obwohl Lina Chris innerlich durchaus zu einem gewissen Grad zustimmte, schüttelte sie den Kopf. „Nein...nein, komm schon. Wir kommen hier raus. Mikes Anruf....vielleicht war das ein gutes Zeichen. Er lebt. Und wer weiß, vielleicht hat er es wirklich nach draußen geschafft und die Polizei ist auf der Suche nach uns. Das mit Hexe -", Lina senkte die Stimme ," - ist wirklich schrecklich. Aber es war ein Unfall. Keine Hexerei... nichts übernatürliches. Nur ein Gewitter.„
„Nein, verdammt! Das Unwetter gestern war nicht normal, Lina. Mein Handy und die ganzen technischen Geräte sind total ausgetickt. Und die Luft war irgendwie...seltsam aufgeladen. Das Ganze hier ist...ich weiß nicht. Ich fühle mich, wie in einem irren Traum. Unnormal. Ich glaube, wir kommen hier nie mehr raus. Ich weiß es einfach, halt mich meinetwegen für bescheuert. Aber ich weiß es."
Mit jedem Wort zog sich Linas Brust mehr zusammen.
Während sich beide anstarrten, wurden draußen vor dem Zelt Stimmen laut.„Sie sind wohl...fertig." Chris fuhr sich durchs Haar und atmete tief durch. „Okay. Bringen wirs hinter uns."
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Die Beerdigung, wenn man es denn so nennen konnte, dauerte nicht lange.
Die Grube, die die beiden Männer ausgehoben hatten, war tief und wirkte unheimlich deprimierend. Finn übernahm die Aufgabe, Hexe in das Erdloch zu hieven. Es wirkte einfach so surreal auf Lina, wie der Körper dort hineingelegt und mit feuchter Erde überschüttet wurde. Der Geruch nach nassem nassen Gras und Moos, der in der Luft lag, verursachte ihr leichte Übelkeit.
Kim hatte von irgendwoher ein paar Blumen herangeschafft und drückte jedem von ihnen ein Sträußchen in die Hand. Lina betrachtete die strahlend gelbe Goldnessel zwischen ihren Fingern und dachte, wie wenig diese Pflanze doch zu einem Grab passte. Das Gelb schien ihr viel zu hell und fröhlich zu sein.
Trotzdem legte sie sie wenig später auf Hexes zugeschüttete Ruhestätte. Jeder sprach ein paar Worte. Jennifer weinte leise in sich hinein.
Die anderen standen einfach nur da und betrachteten still die aufgelockerte Erde. Sogar die Sonne hatte sich verzogen und der Himmel thronte grau und düster über ihnen.
Das hier war der schwerste Abschied, den Lina je erlebt hatte. Sie hatte Hexe nicht nahe gestanden, aber das änderte nichts daran, dass hier ein viel zu junger Mensch gegangen war. Wie alt war sie wohl gewesen. Achtzehn, neunzehn vielleicht?
Finn hatte das Grab zur späteren Identifizierung mit mehreren übereinander geschichteten schweren Steinen markiert.
Dann hatten sie still gepackt und waren weitergezogen. Die nächsten Stunden sprach niemand viel, alle schienen nachhaltig schockiert zu sein.„Da waren es nur noch sechs.", ging es Lina immer wieder durch den Kopf.

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HOJA
Mystery / ThrillerEine Wanderung in den endlosen Wäldern Rumäniens wird für vier junge Menschen zum absoluten Horror-Trip. Eine Gruselgeschichte pünktlich zur düstersten Zeit des Jahres. Das ist mein erster Roman, bitte seid nett ;))