Die Lichtung

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Zuerst hielt sie es für einen verwinkelten Baumstamm.

Es stand nicht weit weg von der Hütte, fünf Meter vielleicht. Und es war nackt, zumindest wirkte es so. Es hätte ein normaler Mensch sein können, wenn es nicht äußerst dürr und sehr groß gewesen wäre. Unnatürlich lange, seltsam verkrüppelte Gliedmaßen hingen von dem dünnen Körper, das Gesicht konnte Lina wegen des Nebels nicht erkennen.
Es stand seitwärts und schien in den dichteren Teil des Waldes zu starren. Und es bewegte sich nicht. Ließ nur in einigen Abständen sein Klicken hören.

Lina hielt die Luft an und sie merkte, dass ihre Freunde neben ihr dasselbe taten. Sie schienen ebenso bewegungslos wie das Ding dort draußen. Und auch, wenn sie gerade einfach nur von Angst erfüllt war, kam doch ein winziger Funke Schadenfreude in ihr auf. Sie hatte Recht gehabt. Da war etwas und dieses Etwas sahen die anderen nun auch. Endlich!

Der Schrei dröhnte durch die Hütte und Lina schrak zusammen, noch mehr, als Kim ihr erschrocken ins Ohr keuchte.

Sie fuhren herum und sahen Chris, der den Mund aufgerissen hatte und noch immer schrie. Die Augen so riesig, dass es aussah, als würden sie gleich als den Höhlen herausploppen.
Dann – nur eine Sekunde später - löste er sich aus seiner Erstarrung, hastete zur Tür, riss sie auf und rannte hinaus, noch ehe überhaupt jemand verstand, was da eigentlich gerade geschah.

„STOP!",

brüllte Matthias und hechte Chris nach, auch Finn eilte los, blieb aber im Türrahmen stehen und lehnte sich nach draußen. Lina spürte zwei Hände mit spitzen Fingernägeln, die sich in ihren Oberarm bohrten. Kims Augen waren feucht und ihre Stimme zitterte, als sie sprach. „Scheiße! Fuck! Lina! Was ist das da draußen?!" Linas Blick fuhr wieder zum Fenster, nach draußen, wo das Ding gestanden hatte.
Leere. Nur dichter Nebel.

„Ich wollte ihn noch packen!"

Auch Jennifer, die noch immer auf dem Boden saß, schien den Tränen nah. „Aber er war so schnell weg! Ich hätte ihn aufhalten können, wenn ich nur – oh Gott!"
Ein Schluchzen drang aus ihrer Kehle. „Und jetzt sind die beiden weg!"

Finn stand noch immer am Eingang und starrte in die Dunkelheit. Der extreme Drang, die Tür zuzuschlagen und zu verriegeln, überkam Lina ganz plötzlich. Aber Chris und Matthias waren da draußen.

Und das Ding!", flüsterte eine leise, kleine Stimme in ihrem Kopf. „Das Ding, das jetzt jederzeit hereinkommen kann. Die offene Tür ist praktisch eine Einladung!"

„Siehst du was?"
Die Worte kamen nur schwach über ihre Lippen. Finn warf ihr einen Seitenblick zu.
„Nein. Nur Dunkelheit."

„Shit. Und was machen wir jetzt?" Die Frage war so sinnlos. Was tat man in so einer verrückten Situation? Der Gedanke, das die beiden Männer da draußen in der Dunkelheit, dem Nebel und dem Etwas herumirrten, machte Lina schier wahnsinnig.
„Keine Ahnung!", erwiderte Finn. „ Ich leuchte mit meiner Taschenlampe die Hütte hinaus, damit die beiden zurückfinden. Ansonsten...können wir nur warten. Und hoffen."

„Können wir die Tür zumachen?!", drängte Kim. „Es fühlt sich mies an, wenn sie offen steht! Das Vieh könnte reinkommen!"
Als Finn die Tür ins Schloss fallen ließ, atmeten sie alle erleichtert aus. Lina schämte sich dafür. Sie dachte an Matthias. Matthias, der völlig orientierungslos im Nebel irrte – mit einem immer näher kommenden Klicken hinter sich.


Matthias.

Matthias war die letzten fünf Jahre eine Art Anker für Lina gewesen. Seine positive, eloquente Art hatte sie aus so vielen Tiefs gezogen. Wenn sie mal wieder Stress mit ihrer Familie hatte – was beinahe ständig der Fall war – schleifte er sie nach draußen. Auf Parties, zu Freunden oder auch nur zu sich nach Hause, wo sie auf dem Sofa saßen und Filme schauten, zusammen kochten, oder draußen auf der Dachterrasse lagen und den Sternenhimmel beobachteten. Er war ihr bester Freund, ihre Stütze. Er hatte sie stets dazu bewogen, weiterzumachen, wenn Lina mal wieder heulend aus der Wohnung ihrer Eltern geflüchtet war.

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