Der Forscher

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Als Lina ihre Augen wieder aufschlug, drang helles Tageslicht durch einen winzigen Schlitz des Zeltes. "Neuer Tag, neues Glück", ging es ihr halbsarkastisch durch den Kopf, während sie ihre Sachen zusammenpackte. Draußen putzte sie sich die Zähne und warf Finn, der kurz darauf heran schlurfte, ein kraftloses "Guten Morgen." zu.
Wenig später waren sie alle aufbruchbereit. Jennifer wirkte im Gegensatz zu gestern einigermaßen normal und hatte einen blauen Verband um ihre infizierte Hand gewickelt. Lina scheute sich, zu fragen, ob "es" sich darunter ausgebreitet hatte, doch Kim hatte keine Hemmungen.
"Wie sieht es darunter aus?!", fragte sie scharf, die Hände in die Hüften gestemmt und mit misstrauischem Blick auf Jennifer. "Nur der Finger, oder ist schon die ganze Hand befallen?" "Es hat sich nicht weiter ausgebreitet.", erwiderte Jennifer kühl. "Keine Angst, du wärst die erste, die es erfahren würde."
Kim ließ einen hüstelnden Laut hören und drehte sich so schwunghaft um, dass ihr beinahe der Riemen ihrer Tasche von den Schultern rutschte. Dann marschierte sie los, in Richtung Westen. Zumindest glaubte Lina, dass es Westen war.
Die Wiese wollte kein Ende nehmen. Trockenes, farbloses Gras, kleine Steinchen und lehmfarbene, poröse Erde, wohin das Auge reichte. Dazu schien die Sonne erbarmungslos auf sie hinunter und Lina wünschte, sie hätte noch einen Schluck des kühlen Flusswassers. Oder überhaupt irgendeine Flüssigkeit. Womöglich mussten sie den Plan, ihren eigenen Urin zu destillieren, doch bald in die Tat umsetzen und bei dem Gedanken war ihr alles andere als wohl. Aber besser, als verdursten...

Während Lina diesen unappetitlichen Gedanken nachhing, merkte sie nicht, dass Kim, die ein Stückchen vor ihr lief, plötzlich stockte und stehenblieb.
Sie bemerkte es erst, als sie in deren pinke Tasche hineinlief. Doch anstatt zu zetern, stand Kim nur starr da und blickte nach geradeaus in die Weite.
"Was ist los?", keuchte Finn hinter ihnen. Er war schwer beladen und trug sein und Jennifers Gepäck, um seine Freundin zu entlasten.
"Da ist jemand!
Da vorne!", murmelte Kim und klang gar nicht mehr so schnippisch wie vorhin. "Seht ihr ihn auch, oder schieb ich Hallus?"
Lina folgte ihrem Blick und tatsächlich - vielleicht 200 Meter vor ihnen, befand sich jemand. Ein Umriss, eine menschliche Silhouette. Sie kniff die Augen zusammen, da die Luft vor Hitze flirrte. Vielleicht war es tatsächlich eine Halluzination, bei der Hitze nicht auszuschließen.
Ihrer aller Blicke trafen den Mann. Zumindest sah es aus, wie ein Mann. Dunkle Kleidung, weite Hosen und eine Mütze oder Kapuze auf dem Kopf, wie es aussah.
Niemand schien sonderlich versessen darauf, auf den Fremden zuzulaufen. Er konnte Rettung bedeuten, aber auch Gefahr.
"Könnte das Matthias sein? Oder... Mike?" Eine gewisse Hoffnung lag in Finns Stimme.
"Ich glaube nicht..."
Lina schluckte. Der Mann kam näher. Schneller, als es eigentlich möglich sein sollte. Oder? Sie konnte sein Gesicht erkennen. Dunkles Haar, dunkle Augen. Das Alter ließ sich schwer schätzen, aber sie schätzte es auf etwa Mitte 40.
Eine seltsame "Aura" umgab ihn und er schien, wie aus der Zeit gefallen. Die weite Kleidung, schlammfarben und sackig, war teilweise zerissen und mit zertrockneten Ästen und Gräsern bedeckt. Er wirkte, als hätte er sich auf der Wiese gewälzt...
Lina spürte, wie Jennifer und Kim einen Schritt zurücktraten. Die Situation schien niemanden von ihnen geheuer zu sein.
"Guten Tag!", stieß Finn schließlich aus, als der Fremde nur noch wenige Fuß von ihnen entfernt war und stehen blieb. Stille. Der Mann starrte sie nur an und sie starrten zurück. Es war unheimlich. Ein menschliches Wesen stand da vor ihnen - und doch fühlte es sich nicht nach Rettung an.
"Können Sie uns helfen?", versuchte es Finn wieder. "Wir haben uns verlaufen. Wissen Sie, wie man hier rauskommt?"
Als die Augen des Mannes über ihr Gesicht glitten, wandte Lina den Blick ab. Gruselig. Diese völlig emotionslose Miene dieses Typen machte ihr mittlerweile Angst. Die Augenbrauen waren verwachsen und buschig, der Bart richtiggehend verwildert und alles in allem wirkte er wie ein Einsiedler. Ein Outsider, ein Sonderling."Ihr könnt nicht mehr zurück!" Das plötzliche, heisere Sprechen ließ sie alle zusammenzucken. Der Mann sprach Englisch, aber in einem Akzent, den Lina nie gehört hatte. Es klang sehr sonderbar und stockend, als hätte der Fremde seine Stimme schon für sehr lange Zeit nicht mehr benutzt. "Entschuldigung...was soll das heißen, wir können nicht mehr zurück? Wo sind wir überhaupt?? Was ist hier los? Wissen Sie mehr, als wir??" Die Worte sprudelten aus Finn heraus und Lina bemerkte, dass er hervorragendes Englisch sprach. "Wie heißen Sie?", schloss der junge Mann seinen Redeschwall und blickte den Mann mit einer Mischung aus Neugierde und Misstrauen abwartend an.
Der Kerl schien gar nicht hinzuhören, sondern musterte nur Jennifer, die wie Lina die Augen abgewandt hatte und sich wegen des Geglotzes extrem unwohl zu fühlen schien.
"Du. DU! Spürst du es?" Er sprach Jennifer direkt an. " Du fühlst es, nicht wahr?"
Die junge Frau schien unter seinen Worten förmlich zusammenzuschrumpfen, antwortete aber nicht. Lina konnte leichte Schweißtropfen auf Jennifers Stirn sehen. War das die Hitze oder....
"Wie heißen Sie? Wie ist Ihr Name?" Finn ließ nicht locker und versuchte, die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich zu ziehen. "Woher kommen Sie? Wieso sprechen Sie so...merkwürdig? Wie kommen wir in die nächste Stadt? Und was soll sie spüren?""Hör auf mit den Fragen!", spuckte ihm der Mann schroff entgegen, als Finn den letzten Satz noch nicht beendet hatte. "Es bringt nichts! Deine Fragen sind hinfällig! Es zählt nur - Ihr seid hier und Ihr bleibt hier. Verstanden!?"

"Was labern Sie da eigentlich für eine Scheiße??", mischte sich jetzt auch Kim ein. Ihre Augen funkelten und sie gab sich nicht den Ansatz von Mühe, ihre Stimme freundlich wirken zu lassen. "Da trifft man nach gefühlten hundert Jahren mal einen sprechenden Menschen und der entpuppt sich als gestörter Hinterwäldler! Sag uns einfach, in welche Richtung wir laufen müssen, um wieder zurück in die Zivilisation zu kommen, okay?? Und wenn du das nicht kannst, verpiss dich einfach und lass uns in Ruhe!"
Kims laute Worte hallten über der Wiese und nun spiegelte sich der Hauch einer Emotion im Gesicht des Mannes wider. Keine Wut oder Abscheu, eher eine Art...Amüsement. Ein winziges, kaum zu erkennendes Lächeln. Lina war sich sicher, dass dieser Typ schon sehr, sehr lange nicht mehr gelacht hatte. "Zügle deine Zunge, mein Kind. Aber - ich verstehe deinen Zorn. Ich habe anfangs ebenso gefühlt. Doch glaube mir...es bringt nichts. Nichts mehr. Emotionen sind sinnlos und kosten nur Kraft. Eure Freundin hat das begriffen."
Er deutete ein Nicken in Richtung Jennifer an und fuhr dann fort. Lina hatte Mühe, ihn zu verstehen. Sein heiseres Englisch war schon undeutlich genug, doch der komische Akzent machte es unfassbar schwer, ihm zu folgen.
"Seid klug und nehmt euer Schicksal an. Ihr werdet nicht mehr in die normale Welt zurückkehren können. Andernfalls werdet Ihr ihr immensen Schaden zufügen. Ihr habt zuviel gesehen."Kim schüttelte bei jedem seiner Worte stärker den Kopf. Ein Lächeln, das man sicher nicht als humorvoll betrachten konnte, lag auf ihren Lippen. "Der spinnt doch. Der ist doch total irre, der Typ!" sagte sie. "Kommt, wir gehen! Zeitverschwendung, diesem Verrückten zuzuhören!" Ihre Stimme zitterte.Finn machte eine Handbewegung, die besagte, dass Kim ruhig sein solle. "Halt die Klappe, Kim! Das ist wichtig!" Er wandte sich abermals zu dem Mann, der Kims Worte gelassen über sich ergehen hatte lassen. "Können Sie uns erklären, warum wir nicht mehr in die...normale Welt zurück gehen können? Hat es was mit ihrer...Infektion zu tun?" Er deutete auf Jennifers Hand. "Was bedeutet das alles? Was ist hier los? Was genau ist hinter uns her und will uns umbringen? Bitte! Sie sind der Einzige, der uns weiterhelfen kann! Bitte! "

Der Mann seufzte. "Mein Junge. Manchmal ist es besser, nicht zu viel zu wissen. Glaube mir. Ich wandle seit Ewigkeiten mit dem Wissen und es ist ein Albtraum.""Bitte erzählen sie uns davon.". Lina dachte, dass ihre Stimme eigentlich nur ein ersticktes Flüstern sein müsste, aber sie klang unerwartet stark und laut. "Was ist das hier? Wir haben ein Wesen gesehen, das uns jagt. Und was ist mit den Bäumen? Warum der Nebel? Und weshalb kommen wir nicht zurück nach Cluj-Napoca?"
Die dunklen Augen des Mannes trafen die ihren und bei dem harten Ausdruck darin, musste Lina schlucken. "Wenn Ihr zurück in die Zivilisation geratet, werdet ihr diese zerstören. Ihr habt Sporen an euch. Ihr alle. Sie werden euch von innen heraus auffressen und ihr werdet jeden Menschen, den ihr begegnet, infizieren und auslöschen. Akzeptiert euer Schicksal, wie ich es getan habe.
Vielleicht habt Ihr Glück und überlebt. Aber ihr dürft nicht zurück, findet euch damit ab."Der Gedanke, mit etwas infiziert zu sein, ließ sie allesamt für einen Moment schweigen. Kim gab ein hysterisches Kichern von sich, Finn verzog den Mund und betrachtete fast verstohlen seine Hand und Lina spürte eine altbekannte Übelkeit in sich aufwallen. Nur Jennifer schien völlig unbeeindruckt. "Was sind das für Sporen?", brachte Finn schließlich gepresst heraus. "Alte Sporen. Älter als eure Eltern, Großeltern, Urgroßeltern. Älter als die Städte, die Straßen, die Häuser. Vielleicht älter als die Menschheit. Ich habe versucht, sie zu erforschen. Mein ganzes Leben in die Erforschung dieses Mysteriums investiert. Ich weiß nicht viel, dies alles hier ist zu unbegreiflich für einen einfachen Menschenverstand. Seit ich selbst befallen bin, ist es mir ein wenig greifbarer. Aber verstehen? Verstehen kann ich es nicht. Ich kann mich nur damit abfinden. Und bisher wurde ich zumindest verschont. Und ich wandle hier schon lange."
Der Mann fasste sich an den Hals, schob dabei ein Stückchen des Revers beiseite, ob unbewusst oder nicht, und Lina konnte ein Stück dunkle Haut sehen. So dunkel, als wäre sie verbrannt oder abgefroren.
"Wie ist ihr Name?", fragte sie mit trockenem Hals und einer stechenden Vorahnung. "Wie heißen Sie?"

"Mein Name ist James Norton.", erwiderte der Mann. "Oder...er war James Norton. Namen zählen schon lange nicht mehr."
Eine Erinnerung schoss durch Linas Kopf. James. James. Wo hatte sie diesen Namen schon einmal gehört? "Sind sie Forscher? Haben Sie hier Bären und die Wälder erforscht? Vor ungefähr 50 Jahren?" Finns Stimme klang ungewöhnlich hektisch und überschlug sich beinahe. "Ich weiß, das macht überhaupt keinen Sinn, aber was macht hier schon Sinn. Wir haben Ihre Aufnahmen gehört. Auf einem alten Tondbandgerät. Sind sie das?"James Norton schloß bei diesen Worten die Augen. "Ja. Ja, genau derwar ich."

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