Die Wege waren gesäumt von weißem Nebel, der sich irgendwie feucht auf der nackten Haut anfühlte. Er verschwand erst gegen Mittag, als es, wie die vorherigen Tage, sehr warm wurde. Ein wenig Abkühlung brachte nur ein kleiner Bach, der beständig neben ihnen dahinplätscherte.
Auf Matthias Okay hin, füllte Lina ein leere Plastikflasche mit dem Wasser und trank einen Schluck. Es schmeckte überraschend gut. Kühl und irgendwie ganz anders als das Leitungswasser daheim.
„Das liegt bestimmt an den tausend Bakterien und Keimen da drin!", frotzelte Chris.
Lina ließ sich davon nicht stören und befüllte die Flasche nochmal, bevor sie sie in ihren Rucksack steckte.Der dünne Trampelpfad, den sie entlang liefen, führte zu einer Holzbrücke. Einer sehr behelfsmäßig aussehenden Holzbrücke. Boden und Geländer bestanden aus nicht besonders stabil wirkenden Ästen, während etwa acht Meter unterhalb ein breiter Fluss entlang floss. Lina konnte die Gischt sehen, die sich an der Uferböschung bildete.
„Oh Gott, was ist das denn bitte?!". Kims Blick streifte erst die Wassermassen, dann das trockene Gehölz. „Matthias, du kannst nicht ernsthaft verlangen, dass ich da rübergehen soll! Das Teil bricht doch nur beim Anschauen durch!"„Wir müssen da nicht rüber, aber sofern du kein Interesse hast, einen vier Stunden langen Umweg auf uns zu nehmen, würde ich sagen, dass du zumindest versuchst, die Brücke zu benutzen. Ich gehe vor und Ihr folgt mir."
Noch bevor er den Satz beendet hatte, stand Matthias schon auf den ersten Stufen. Probehalber rüttelte er ein wenig am Geländer und machte ein paar Schritte. „Sieht ganz gut aus. Keiner von uns wiegt über 150 kg, also dürfte das Teil problemlos halten."
Er erreichte das andere Ende und drehte sich mit auffordernden Ausdruck im Gesicht zu den anderen um. „Worauf wartet Ihr?"Chris machte den Anfang. In der Mitte der Brücke tat er so, als würde er einbrechen und hielt sich gespielt krampfhaft an den beiden Holzbalken fest, bis er schließlich das andere Ufer erreichte.
Die beiden Mädchen sahen sich an.
„Du darfst zuerst!", sagte Kim gönnerhaft und gab Lina einen kleinen Schubs. „Und versuch, nicht einzubrechen."Lina tat einen Schritt auf das hölzerne Ding und hörte es selbst durch die Geräusche des Flusses das leise Knarzen. Eigentlich hatte sie keine Höhenangst, aber die Verbindung mit dem Wasser unter ihren Füßen, machte die Sache dann doch ein wenig problematisch. Sie musste schlagartig kreidebleich im Gesicht geworden sein, denn Chris und Matthias sahen sie von der anderen Seite aus mit einer Mischung aus Besorgnis und Verwirrung an. „Magst du keine Brücken oder was?", kam es von Chris. „Ist doch wirklich kein Ding – wenn du runterfällst, landest du ziemlich weich."
„Wenn sie nicht mit dem Kopf auf einen Stein knallt!", gab Kim von hinten zu bedenken. „Mach schneller, Mensch, ich will heut auch noch rüber!"
„Halt die Klappe, Kim!", rief Matthias ihr zu. „Komm Lina, ein paar Schritte noch! Ich geb dir meine Hand." Er streckte ihr den Arm entgegen, Lina sog die Luft ein und rannte den letzten Abschnitt eher, als dass sie ging. Als sie Matthias warme Finger umgriff, fühlte sie sich schlagartig sicherer.Doch der Krach, den sie gleich darauf hörte, ließ sie herumfahren.
Kim schrie. Sie befand sich etwa in der Mitte der Brücke und – Lina blinzelte – steckte bis zum Torso im Holz des Bodens fest. Der halbe Teil der Brücke war binnen Sekunden weggebrochen, das linke Geländer hing zum Teil im Fluss.
„Hilfe!", kreischte Kim und ihre Arme suchten panisch nach Halt. „Hilfe verdammt, ich falle!!"Lina sah wie in Zeitlupe, wie einer von Kims langen rosa Nägeln sich in in den hölzernen Brückenboden zu bohren versuchte und gleich darauf umknickte.
In dem Moment rannte Chris los.
„Achtung, das Ding bricht total ein, wenn du auch noch darauf bist!", schrie Matthias ihm zu. War das Rauschen des Flusses schon die ganze Zeit so extrem laut gewesen? Chris hörte nicht auf Matthias Worte und betrat die Brücke, indem er sich auf der rechten, noch halbwegs stabil wirkenden Seite bewegte. Die ganze, windige Konstruktion wankte jetzt. Von Kim waren nur noch Kopf und Brust zu sehen, der Rest strampelte in der Luft.
„Die fallen beide runter!", sagte Lina mit angehaltenem Atem zu Matthias. Der nickte. „Kim, lass los! Es ist sinnvoller, wenn du ins Wasser fällst, als wenn hier alles zusammenbricht und ihr die Trümmer auf den Kopf bekommt!"
Die schrie noch immer. „Bist du bescheuert? Soll ich mich umbringen oder was?? Chris, hilf mir jetzt endlich, verdammt noch mal, ich stecke fest!"
Ihr Freund war beinahe bei ihr angelangt und reichte ihr den Arm. Sie packte seine Hand und zerrte daran, zuerst sah es tatsächlich so aus, als könnte Chris sie aus dem hölzernen Gefängnis herausziehen. Doch dann gab das Gebälk endgültig nach. Die ganze Brücke kippte.
Zwei Körper fielen klatschend auf die Wasseroberfläche.Lina und Matthias liefen los. Der Fluss war nicht sonderlich stark reissend, aber er war tief.
Nur wenige Sekunden später tauchte Chris' Kopf auf. Eine blutige Wunde zierte seine Stirn. Mit schnellen Zügen schwamm er zum Ufer und stieß sich aus dem Nass. Doch von Kim war nichts zu sehen.
Kurz sah es so aus, als würde Chris sich zurück in den Fluss werfen wollen, doch Matthias war schneller. Er sprang hinein, wich Holz und Balken aus und tauchte unter.„Sie ist neben mir reingefallen.", keuchte Chris. „Ich glaube, sie hat was auf den Schädel bekommen! Scheiße, verdammt!" Linas Herz klopfte heftig. Auch wenn sie kein großer Fan von Kim war – so etwas wünschte sie nicht einmal ihrem größten Feind.
Beide starrten auf die Wasseroberfläche. Von Matthias keine Spur.
Oder doch! Da! Er tauchte auf, drehte sich einmal um sich selbst, holte tief Luft und verschwand wieder nach unten.„Ich muss auch wieder rein!" Chris richtete sich auf und sog zischend die Luft ein. Die Wunde auf seinem Kopf blutete so stark, dass sein ganzes Gesicht rot war. „Matthias macht das schon!", erwiderte Lina schnell, griff in den Rucksack und zog nach kurzer Suche ein Medi-Set heraus. „Wir können jetzt nicht helfen – und das muss schnell behandelt werden!" Sie deutete auf Chris Stirn und tupfte ihm Desinfektionsflüssigkeit auf. Binnen Sekunden war das Tuch blutgetränkt, obwohl es sich nur um einen verhältnismäßig kleinen Schnitt handelte.
„Scheiße, nein, lass das! Ich muss sie retten!" Chris fluchte und stieß Lina hart beiseite. In diesem Moment hörten sie den Schrei.
„Helft mir!"
Matthias war wieder aufgetaucht und war gerade dabei, Kims bewegungslosen Körper an Land zu wuchten.
Sie sah furchtbar aus. Das schwarze Haar blut- und schmutzdurchtränkt, das Gesicht weiß wie das einer Wasserleiche. Kims Augen waren geschlossen.

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HOJA
Mystery / ThrillerEine Wanderung in den endlosen Wäldern Rumäniens wird für vier junge Menschen zum absoluten Horror-Trip. Eine Gruselgeschichte pünktlich zur düstersten Zeit des Jahres. Das ist mein erster Roman, bitte seid nett ;))