William Alexander Schroeder und Felicia Soraya Schroeder. Willi und Feli. Will und Soso. Liam und Felicia. Wir hatten schon viele Spitznamen, die meisten mehr bescheuert als wohlklingend. Aber egal unter welchem Namen man uns kannte, wir waren Liam und Felyx, die ungleichen Zwillinge von Katrin. „Zwillinge? Niemals.", sagten sie alle und alle schüttelten sie die Köpfe, wenn wir antworteten: „Doch." und das Wort in Gedanken zu einem Satz erweiterten: „Doch, oder unsere Mutter lügt uns und alle Welt permanent an."
Also waren wir irgendwann einfach William und Felicia, bei Rufnamen Liam und Felyx, Bruder und Schwester. Die ungleichen Zwillinge. Und dass wir angeblich eineiig seien, sagten wir erst recht nicht, da das laut Biologie eigentlich gar nicht möglich wäre, aber laut unserer Mutter schon. Und wenn wir eines gelernt haben in den 18 Jahren Leben, dann, dass egal wer gegenüber steht, Mama hat immer Recht.
Wir hatten unterschiedliche Geschlechter, sahen uns nicht mal ähnlich und waren da vom Charakter her kaum anders.
Ich hatte strohblondes Haar, allerdings nie strohig sondern weichgespült, Felyx hatte langes Schwarzes. Sie trug sie am liebsten in einem geflochtenen Zopf, nur wusste sie nicht, wie man sich so einen machte. Nicht im Kindergarten, nicht in der Grundschule und auch heute in der zwölften Klasse nicht. Also hingen die Haare in einem versuchten lockeren Flechtzopf von der Schulter. Wie sie fielen, kam einem Strom, wie er bei nächtlicher Finsternis um einen Vorsprung fließt gleich, ja, so in etwa umschmiegte ihr Haar ihr Gesicht, sodass es eher gewollt anstatt schlecht gekonnt aussah. Ich hatte einen leuchtend gelben Pilzkopf. Oder einen fransigen Topfschnitt. Eine Halbkugel auf dem Schädel, ich könnte sicherlich noch mehr finden.
Unsere Unterschiedlichkeit faszinierte mich ständig aufs Neue, wenn ich sie mit meinen langweiligen Augen musterte. Braun. Nicht dunkelbraun. Nicht fast schwarz. Nicht hell- oder nuss-, nicht schokoladen-, kaffee-, mause- oder grünbraun, nein, einfach nur braun. Langweilige braune Augen starrten in leuchtend Grüne. Wie Gift. Wie frisches Sommerlaub. Wie die Augen einer Katze, die das Schwarz der Nacht zerbarsten. In solche Augen schaute ich, wenn ich meinem ungleichen Zwilling ins blasse Gesicht schaute. Das war unsere einzige Gemeinsamkeit, eine helle Haut. Wir waren nicht viel draußen und wenn doch, dann spielten wir im Waldstück, das an unser Zuhause angrenzte. Damals. Als wir jünger waren und Papa noch am Leben. Das letzte mal waren wir in dem Wald, als wir mit 13 dort gespielt haben. Papa war ein Drache, ich der Pirat Pissenlit und meine Schwester die Schwertkämpferin Lavande. Sie liebte den Lavendel und ich sah aus wie ein Löwenzahnkopf, deshalb nannten wir uns nach den französischen Wörtern für die Blumen. Ich rannte hastig, gejagt von dem tobenden Drachen, achtete nicht auf den Boden, stolperte immer und immer wieder. Bis der Boden unter mir ganz weg war und ich grade noch so von einer Hand am Kragen gepackt wurde. „Pass auf wo du hin rennst.", ermahnte mich unser Vater freundlich. Er hielt mich mühelos und atmete ruhig, als wäre er nie gerannt. Wie ähnlich ich ihm geworden war fiel mir immer wieder auf. Ich hatte seine Haare und sein rundes Gesicht. Und meine einzige sportliche Eigenschaft, Ausdauer.
Viel bekamen wir von Papa nicht mit, er war oft weg und stets sehr geheimnisvoll, seine Familie lernten wir nie kennen. Aber wenn er da war, dann erzählte er uns die besten Geschichten. Nicht von seinen Abenteuern, nicht von dem, was er unterwegs gesehen hatte, es waren ganz andere Geschichten. Legenden, die kein Mensch kannte, Märchen, Geschichten, die er erfunden hatte, doch wir glaubten sie ihm schon als Kinder und sind immer noch überzeugt, dass irgendwo da draußen, vielleicht direkt vor unseren Augen, die fantastischsten Kreaturen lauern. Drachen, Magier, Katzen, die auf zwei Beinen laufen und Wesen, die man sich fast nicht vorstellen konnte, so verrückt schienen sie. Wenn wir schlafen gingen träumten wir von ihnen und wenn wir aufwachten, suchten wir sie. Doch wir konnten sie nicht finden. Fragten wir Papa, hieß es, er würde uns die Karte nicht geben, die Wesen der ersten Welt wollten nicht gefunden werden. Wir wussten nicht, was erste Welt meinte, doch wir sollten sie nie finden. Sebastian Schroeder nahm die Karte mit in sein Grab und ließ nur die Fetzen von vergangen Erzählungen zurück.
Wir durften nie auf eine Beerdigung. Wir sahen ihn nicht nochmal, bevor er starb. Wir kamen nur vom Schullandheim zurück und er war weg. Ohne dass man uns auch nur sagte, weshalb.
Wir durften nicht fragen, wir durften nicht mehr in den Wald und durften nicht mehr sein, was wir waren.
Unsere Mutter wurde seltsam und erachtete sich selbst nicht als fähig, zwei verträumte Kinder alleine zu erziehen, weswegen ein guter Freund von Papa dazuzog. Er war kein Stiefvater, aber auch kein Babysitter. Er war der Wärter unserer Zellen, er war unser ganz persönlicher Foltermeister. Während Mama im Krankenhaus Tage und Nächte arbeitete, waren wir mit dem selbstständigen Monster allein zuhause. Wir verloren alles, unsere Fantasie, unsere Freude und unsere Hoffnung auf Rettung. All das von Holger persönlich erdrosselt, im Keim erstickt und ausgebrannt. Und Mama sah weg, wenn wir ihr die Wunden zeigten, nachdem er uns schlug, sie überhörte es, wenn wir sie anflehten, ihn wegzuschicken. Und er hatte freie Bahn, dadurch, dass wir einen versperrten Weg hatten.
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Im Auge des Juwels - Verborgene Welt
FantasyKatzen mit der Statur eines Menschen, Drachen mit Pferdekopf und junge wie vor Alter graue Magier schlendern über den Dorfplatz, den man durch die Fenster erkennt. In einem der Räume des kleinen unterirdischen Hauses hängt eine grüne, weiß bestaubte...