1. Juli, Handelskreuz; Felyx
Ich schaute durch die Seiten, sie waren nicht alt aber auch nicht neu. Die Ränder waren teils vergilbt oder hatten einen Wasserschaden, was nicht wirklich ins Gewicht fiel, dadurch, dass das Papier sowieso ziemlich dick war.
„Was hast du da?", fragte mein Bruder, der durch das Geräusch des Blätterns aufmerksam wurde. „Sowas wie ein Handbuch. Munterris für Dummies. Beziehungsweise Menschen."
„Ist ja dasselbe.", scherzte Liam mit doch ernstem Tonfall. Er hatte Recht. Die Menschheit vermisste ich hier nicht.
„Das Buch ist aber wirklich echt praktisch, Katha hat es mir für zehn Kroken verkauft. Es steht alles mögliche drin und es sind auch einige Graphiken dabei. Kuck, hier.". Ich hielt meinem Zwilling das aufgeschlagene Buch hin. Die offenen Seiten zeigten eine handgeschriebene Erklärung der munterrischen Monate und das irdische Äquivalent. „Januar bis April ist Frühling, hier Mondblüte, weil in der Zeit der Mond scheint und die Pflanzen beginnen zu erblühen. Was bei uns der Herbst ist, ist hier der Sonnennebel von August bis Oktober. Die letzten zwei Monate im Jahr sind dann der Mondfrost. Momentan haben wir Sommer, Sonnenfrische, allerdings hat heute der letzte Monat begonnen. Für uns der erste Juli, hier.."
„Der erste des Sonnenfrischenhauchs...?", ergänzte Liam unsicher. Aber genau das war es, was in dem Buch stand. Heute war der erste des Sonnenfrischenhauchs. Sonnenfrische als Teil der Jahreszeit und hauch als Monatsname, oder so ungefähr. Das könnte man, glaube ich, nur durch Anwendung und Gewöhnung verstehen. Doch ich war motiviert, so wie in den ersten Wochen eines neuen Schuljahres, wenn man eine neue Sprache lernt. Nur war das hier eine Nummer größer als Französischunterricht. Aber wahrscheinlich war es mein zukünftiges Leben, wenn auch sämtliche Lebensplanung von vorher verworfen wurde hierdurch. Ich wollte meinem Bruder noch mehr in dem Buch zeigen, also schlug ich um und suchte nach der Erklärung von Blutrausch. „Ah, hier. Du solltest dir das echt durchlesen, bevor du wieder irgendwo reinfasst, das dich potenziell umbringt.". Er grinste nur frech und legte die Hände an die stets angelegten Dolchscheiden. „Aber zeig mal, das ist echt interessant. Ich meine pfeif mal aufs Wetter, Tiere, die zu Monstern mutieren sind cooler.", murmelte er, als er das Buch zu sich rüberzog.
„Das ist nichts cooles.". Aristomeles klang ungewohnt ernst, wenn auch bekümmert. „Wie schon einmal gesagt, Blutrausch ist nicht einfach wie eine ansteckende Krankheit, die über Schleim übertragen wird."
Liam war es sichtlich unangenehm, was er gesagt hatte. Er rieb sich den Hinterkopf und schaute verlegen zu mir.
„Außerdem befällt es nicht nur Tiere.", maunzte Katha weniger vorwurfsvoll als aufklärend. „Jeder Munterrer kann davon betroffen sein, und wer weiß, möglicherweise auch Menschen."
Es jagte mir einen Schauer über den Rücken, was, wenn einer von uns zum Blutgeist werden würde? Müssten wir ihn dann töten? „Äh... aber, wie kommt es denn nochmal dazu? Also dass man zum Blutgeist wird?", fragte Liam, der es wieder wagte aufzuschauen. Diesmal meldete ich mich zu Wort und erklärte es, sofern ich es durch mein angelesenes Wissen konnte: „Es heißt, dass man verdorben ist, wenn man vom Blutrausch befallen ist. Man ist dann nicht mehr man selbst, man ist eine gebrochene Version von sich selbst. Der Rausch bedeckt einen wie eine Schleimhülle und es gibt nichts, was einen heilen kann, sozusagen."
„Genau. Man muss verdorben sein, gebrochen. Wenn es einem Wesen so miserabel geht, dass ihm nichts mehr bleibt, dann wird es anfällig. Es wird nicht gleich zu einem Blutgeist, aber die Dunkelwesen und die drei verstoßenen Geister sind auf der Jagd und bist du erst einmal anfällig für sie, dann wandelst du in ihrer Ebene. Du wirst zu ihrer Beute und letzten Endes werden sie dich fangen und verderben."
Aristomeles hatte soeben unseren Morgen in eine Horrorstory verwandelt und wir konnten nicht anders, als dazusitzen, die Arme um die angewinkelten Beine geschlungen und zu allen existierenden oder nicht existierenden Göttern, die uns einfielen zu beten. „Ihr braucht keine Angst zu haben. Nur weil Jemand gebrochen ist, heißt das nicht, dass dieses Wesen nicht wieder kuriert werden kann. Durch Zuwendung und Lösung der Probleme kann sich der Gemütszustand eines jeden wieder aufhellen und somit kann man vor den Wesen der Spiegel geschützt bleiben."
„Wow, ihr habt echt ein Talent darin, mit nur einem Gespräch wieder zehn neue Begriffe einzubringen.", bemerkte Liam trocken. Aber auch diesmal stimmte es wieder. „Könnt ihr uns wenigstens sagen, wer die drei verstoßenen Geister sind? Das klingt nicht ganz so allgemein.", bat ich. Später konnte ich es dann hoffentlich selbst nachschauen.
Ein Zucken fuhr durch Katha, bevor er antwortete: „Viel können wir euch nicht zu ihnen sagen, außer, dass ihr, mögen die Götter es erhören, niemals auf diese Kreaturen stoßen werdet. Sie tragen die Namen Blizzer, Culpa und Opid. Sie sind von Grund auf verschieden, so hat man Culpa noch nie erblickt, Blizzer dafür greift immer wieder mal an, wen und wieso auch immer. Von Opid ist noch weniger bekannt, doch man betet stets füreinander, dass dieses Ungeheuer einen nicht heimsuchen wird."
Ich redete mir selbst ein, dass es gut war, dass man nichts über die drei wusste, da das doch hieß, dass sie selten auftauchten. Zumindest hofften wir das. Alle Beide.
„Und was ist mit den Wesen der Spiegel? Was haben Spiegel-", doch Liam konnte seine Frage nicht zu Ende stellen, als ein Schrei die Atmosphäre untermalte. „Was war das?!", schossen wir fast im Einklang hervor. Katha hatte sich umgewandt, um um den Wagen herumzutreten und sich selbst diese Frage beantworten zu können. Ein weiterer Schrei, diesmal klang er familiär. „Katha, was ist los? Ist wieder ein Wölf da? Das war doch Igor!"
Er drehte sich nicht um, stand nur auf dem Kutschbock und hielt sich mit einer Pfote am Gestell fest. „Nein..", säuselte der Kater entsetzt, „es ist viel schlimmer. Clairy."
Wir verstanden nicht, was los war, als er zurück zu uns nach hinten kam und Aristomeles auch wegtrabte um zu schauen, als könnte er es nicht glauben. „Was, wer ist Clairy?"
„Eine Hexe. Sie ist eine Meisterin der Magie, jedoch setzt sie sie nicht zu guten Zwecken ein. Sie randaliert in Handelskreuz."
wir waren ein Stück weit entfernt von dem Dorf, konnten aber noch alles gut genug erkennen. Wir lugten unter der Plane hervor und erkannten den runden Handelsplatz mit dem Brunnen wieder. Eine junge Frau mit langen, rotbraunen Haaren stand in einer Gruppe aus Munterrern, die in alle Richtungen flohen. Sie sah nicht so aus, wie wir uns eine Hexe vorstellten:
Sie trug ein grünes Top, der Schnitt ähnelte dem meinen, und eine lange, enge Hose mit mehreren Riemen dran.
„Was auch ist, bleibt hier. Wir verstecken uns und hoffen, dass sie uns nichts tut.", erklärte Aristomeles mit leiser Stimme. Zuschauen würden wir trotzdem.
«EY!», hörten wir es über die Fläche hallen. Ein Stein traf die Frau an der Schläfe, woraufhin sie sich zu dem Angreifer umdrehte. Oder Angreiferin? Ein immer noch ungeklärtes Rätsel. Das Kind, das wir als erstes gesehen hatten bei unserer Ankunft war so tollkühn, einen Stein zu werfen. Neben Owlgamer kam nun auch der dazugehörige Mann angelaufen. Ein Überfall auf Handelskreuz, perfekt für ein schönes Wiedersehen mit den Beiden. Sie trugen praktisch dasselbe wie bei unserer Ankunft, nur das Jackett trug er nicht mehr, dennoch noch weißes Hemd und Jeans. Bei Owlgamer war ich mir nicht sicher, ob sie überhaupt etwas neues trug. Clairy ebenso, diese rümpfte nämlich die Nase. «Lass unser Dörfchen in Ruhe, ich krieg mein Frühstück von hier.«, rief sie noch einmal, «sonst hetzte ich meinen Traeder auf dich.». Sie stand seelenruhig der Hexe gegenüber und spottete. Der von ihr erwähnte Traeder ging aber von ganz allein einen Schritt auf die junge Frau zu, die sich blitzschnell zu ihm wandte. Für eine Sekunde herrschte Ruhe, dann, auf einen Schlag griff eine Ranke aus dem Nirgendwo nach dem Bein des Kopfgeldjägers und schmiss ihn auf den Boden vor der Hexe. Mehrere Ranken umschlungen seinen Oberkörper, als Clairy sich zu ihm runterbeugte und die Hand um sein Kinn legte. Ihr Daumen ruhte auf dem dreieckigen Kinnbart direkt unter seiner Unterlippe, jedoch packte ihre Hand seinen Kiefer. „Oh, lange nicht gesehen, Kopfgeldjäger.. Lust auf ein kleines Rendezvous?", schmeichelte sie ihm. Er streckte mit aller Kraft den Kopf nach hinten, knirschte dann aber ein paar schwer verständliche Worte hervor: „Nein... ich.. muss leider ablehnen... aber ich hab kein Interesse.". Dann ging es wieder Schlag auf Schlag. Traeder hatte es geschafft, den Degen zu ziehen, mit dem er uns auch gedroht hatte. Er zerschlug mühelos die Ranken und machte einen Satz nach hinten. Ohne weitere Schleimereien jagte die Hexe einen grün leuchtenden Flammenball nach dem nächsten auf den Mann, der den Degen sicher haltend auf sie zu stürzte und dabei allem auswich. Owlgamer stand bloß gelangweilt am Rand des Geschehens. Zwei Kugeln rasten von links und rechts auf Traeder zu, ohne ausweichen zu können sprang er in die Luft und holte aus. Die Klinge durchschnitt die zwei Angriffe, als hätte Clairy bloß mit Obst geworfen. Doch die bombardierte ihn als weiter, nutzte die Gelegenheit, dass er auf die Flammenbälle konzentriert war. Erneut schlugen zwei Ranken aus dem Boden nach den Füßen des Kämpfers und warfen ihn zu Boden. Sein Degen fiel ihm aus der Hand und schlitterte über den gepflasterten Platz, zu weit, um wieder aufgehoben zu werden, hätte er sich überhaupt bewegen können. Die Pflanzen schlangen sich immer enger um ihn, bis er komplett an den Untergrund gefesselt war. Sie hörten nicht auf sich zu bewegen und den sich windenden Mann unter sich zu würgen, zu pressen, als wollte sie ihn mit sich nach unten ziehen.
„Wir müssen doch irgendwas tun!", quietschte ich verzweifelt, als ich mich zu den Anderen drehte. Katha schüttelte heftig den Kopf, „Du kannst nichts unternehmen. Du bist unbewaffnet und Traeders Waffe wirst du nicht halten können!"
Ich überlegte, es war wahr, ohne Waffe konnte ich nichts ausrichten. „Liam, bitte. Ich hab keine Waffe, aber du hast doch deine Dolche!"
Alle schauten sich mich entgeistert an. „Das wäre Selbstmord!", merkte Aristomeles an, was Liam nur unterstützte: „Ja, ich kann doch gar nicht gescheit kämpfen und noch dazu seh ich nicht ein, dass ich für den Kerl da mein Leben aufs Spiel setzen sollte."
„Es geht doch um mehr als nur Traeder! Es geht um ganz Handelskreuz, all die Kunden, die Kinder, Igor und so, die haben nichts getan und müssen am Ende trotzdem leiden! Es geht um alle da unten und wenn es ganz blöd läuft, dann führt eh kein Weg dran vorbei, dass sie uns entdecken wird! Noch haben wir den Vorteil, dass sie uns nicht gesehen hat und mit dem Rücken zu uns steht! Also bitte Liam, du hast schon den Wölf besiegt, also schaffst du das auch!".
Er dachte nach, grummelte etwas, fasste aber doch die Griffe der zwei Dolche und zog sie hervor. Mit einem Nicken schlich er aus dem Wagen, die zwei Händler waren still, wollten nichts mehr sagen. Konnten nicht. Sprachen aber wohl ihre stummen Gebete für meinen Bruder. Dieser huschte gebückt, wie als er Holger überrascht hatte, über die paar Meter der Wiese, bis er näher an der Magierin dran war. Er hatte offensichtlich Angst, traute es sich nicht, sic aufzurichten oder anzugreifen, weshalb er auf Distanz blieb. Seine Augen fokussierten Clairy, die noch immer auf ihre Beute herabschaute. Ein Zahn durchschnitt die Luft, Blut spritzte und ein Aufschrei weckte alle verängstigten Zuschauer aus ihrer Trance. Einer der beiden Dolche von Liam hatte sein Ziel am Hals getroffen und war dort stecken geblieben. Die Ranken hörten auf sich zu winden, hielten ihr Opfer aber stets fest umklammert. Unausweichlich bemerkte Clairy ihren neuen Gegenspieler, ihre Zähne rieben aufeinander, als sie mit zusammengekniffenen Augen die Klinge aus dem Hals zog. Blut floss aus dem Loch und bedeckte für einige Sekunden ihre Kleidung, bevor sich die Wunde geschlossen hatte. Es sah furchtbar aus, als hätte sich die Haut drumherum in einem Wirbel zusammengezogen und sich enger um das Fleisch geschlossen, um es wieder zu verstecken. Zitternd blieb Liam stehen, seinen Vorteil hatte er gerade verloren. Aus dem Hinterhalt schnappte eine Fleischfressende Pflanze nach ihm und spuckte ihn zu den Füßen der Hexe, wie auch zuvor schon Traeder. Eben wie jener umschlossen auch meinen Zwilling Ranken und drückten ihn zu Boden. Seinen verbleibenden Dolch hob sie unbeeindruckt auf und warf ihn an eine Hauswand, wo er stecken blieb. Ein Kribbeln stieg in mir auf, das mich fraß. Schuld pochte in meinen Adern bei dem Anblick, der sich mir darbot und ich fürchtete um den Tod meines Bruders- mal wieder.
DU LIEST GERADE
Im Auge des Juwels - Verborgene Welt
FantasyKatzen mit der Statur eines Menschen, Drachen mit Pferdekopf und junge wie vor Alter graue Magier schlendern über den Dorfplatz, den man durch die Fenster erkennt. In einem der Räume des kleinen unterirdischen Hauses hängt eine grüne, weiß bestaubte...