»Meinst du, dass deine Eltern mich mögen?« Ich sah sie an und rollte die Augen. »Natürlich werden sie das. Du bist toll.« Dankbar sah sie mich an. Sie machte sich wirklich Gedanken. »Gott, ich bin so glücklich. Endlich haben wir das Studium geschafft.« Zustimmend nickte ich. »Ja, ich auch. Die Prüfungsphasen werde ich nicht vermissen, aber die Semesterferien.« Dann sprachen wir eine Weile nicht miteinander, jeder hing seinen Gedanken nach. Ich dachte an meine Eltern. Ich freute mich wirklich darauf, sie wiederzusehen. Wir würden ganze vier Wochen bleiben und in meinem alten Zimmer wohnen. Sie hatten alles so gelassen, denn ich hatte meine ganzen alten Sachen und Möbel nicht mit nach Berlin genommen. Dort wohnte ich noch immer in einer WG mit einem weiteren Studenten und einer Studentin. Aber bald wollten Emilia und ich zusammenziehen. Wir hielten schon Ausschau nach einer kleinen Wohnung, die wir uns leisten konnten. Jetzt in den Semesterferien wollten wir noch einmal in Ruhe schauen. In einer WG hatte man nie seine Ruhe. Für die Studienzeit war es vollkommen in Ordnung, aber die war jetzt vorbei. Ich wollte endlich meine eigenen vier Wände haben.
Der Zug war voll. Das nervte mich etwas. In unserem Abteil schrie ein Kind und es beruhigte sich nicht. Ein paar Jugendliche hörten laute Musik. Ein älterer Herr telefonierte. Alles war laut und durcheinander. »Wann kommen wir noch einmal an?«, fragte Emilia. »Um 17:50 Uhr eigentlich, aber durch die Verspätung hat es sich etwas nach hinten geschoben« erwiderte ich und sah auf die Uhr. »Ich muss meinem Papa gleich mal schreiben, dass er etwas später am Bahnhof sein soll.« Genau das tat ich auch. Er schrieb zurück: »Ok, wir freuen uns auf euch!« Wir hatten noch viel Zeit. Wir waren insgesamt etwas über drei Stunden unterwegs. Deshalb schnappte ich mir mein Buch »Krähenmädchen« und schlug es auf. Emilia stöpselte sich die Kopfhörer ins Ohr und öffnete Spotify. Dann schloss sie die Augen und wippte im Takt mit.
Als ich gerade mal zehn Seiten gelesen hatte, kam der Kontrolleur. Ich überreichte ihm unser Ticket und er sagte: »Ah, nach Stralsund soll es gehen. Wunderschöne Stadt, nicht wahr?« Ich nickte nur. Ja, Stralsund war eine schöne Stadt. Das war sie wirklich. Er gab mir das Ticket zurück und ging weiter. Ich lehnte mich wieder zurück. Mir was das Lesen vergangen. Meine Laune verschlechterte sich komischerweise und ich wusste nicht, woran es lag. Ich starrte einfach nur aus dem Fenster. Sah die Landschaften und Bahnhöfe an mir vorbeiziehen. Dann regte sich Emilia. »Ich muss wohl eingeschlafen sein«, sagte sie und gähnte. Ich rückte näher zu ihr.
»Können wir bei dir eigentlich ungestört Sex haben?«, fragte sie mit einem schelmischen Grinsen. Ich tat so, als wäre ich geschockt. »Du willst im Haus meiner Eltern mit mir schlafen? Das kannst du vergessen.« Ich blieb total ernst und sie sah mich erschrocken an. »Wir sind vier Wochen da. Vier ganze fucking Wochen. Das weißt du doch, oder?« Sie glaubte mir wirklich. Da wir ja erst ein knappes Jahr zusammen waren, übernächsten Monat hatten wir Jahrestag, war bei uns natürlich alles noch sehr aufregend. Für mich ganz besonders, denn ich hatte mit ihr mein erstes Mal. Sie hatte zuvor schon zwei Freundinnen gehabt und mit einer von ihnen auch geschlafen. »Emilia, ganz ruhig. Das war ein Witz. Natürlich können wir das. Mein Zimmer ist oben im Haus, meine Eltern schlafen unten. Wir haben oben sogar unser eigenes Bad.« Erleichtert atmete sie aus. »Bei dir kann man sich nie sicher sein, ob das ein Witz ist, weil du immer so ernst bleiben kannst.« Jetzt musste ich grinsen. »Damit musst du wohl leben«, scherzte ich und sie erwiderte prompt: »Ja, das muss ich wohl. Aber damit komme ich klar.« Sie gab mir einen Kuss.
Dann sah ich wieder nach draußen. »Wir sind gleich da«, erklärte ich. »Wir können schon aufstehen.« Wir sammelten unsere Sachen zusammen und gingen langsam in Richtung Ausgang. Durch die Lautsprecher tönte gerade: »Wir erreichen in Kürze: Stralsund HAUPTBAHNHOF.« Wie oft hatte ich diese Durchsage früher gehört? Sie hatte eine ganz komische Eigenart. Das »Hauptbahnhof« wurde im Vergleich zu dem restlichen Satz richtig laut und mit einer komischen Betonung durchgesagt. Darüber hatten wir uns früher immer amüsiert und es nachgesprochen. Es hatte sich bis heute nicht geändert. Ich hatte auch eben die Lippen dazu bewegt und musste grinsen. Emilia hatte es nicht mitbekommen. Mit dem Schülerferienticket waren meine Freunde und ich immer nach Rostock oder zum Strand gefahren, der zum Glück super gut zu erreichen war von hier. Meistens fuhren wir nach Binz. Es war ein beliebtes Touristenziel und immer sehr voll, aber das störte uns nicht.
Die Bahn fuhr langsam ein. Dann öffneten sich die Türen und die warme Luft schlug mir entgegen. Wir stiegen aus. Interessiert sah Emilia sich um. Alles hier fühlte sich so vertraut an. »Das ist ja süß hier«, kicherte sie. Ich wusste, was sie meinte. Unser Bahnhof hier war klein. Es gab insgesamt sechs Gleise. »Ja, sehr überschaubar, was?« Sie wuchs in Berlin auf. Für sie war hier also alles klein. Es war nicht mehr so anonym. Man traf hier immer mal Gesichter, die man kannte. Wir gingen in die Bahnhofshalle (1). Sie hielt mich am Arm zurück. »Wie cool ist das denn?«, fragte sie und zeigte mit ihrem Finger auf die Malereien von Stralsund, die sich an den Wänden befanden. Ich musste grinsen. Sie war wirklich sehr leicht zu begeistern.
Dann gingen wir weiter. Die Halle war nicht sehr groß, sodass wir sehr schnell den Ausgang erreichten. Vor dem Bahnhof gab es nur einige Parkplätze. Ich sah mich um. Dann erkannte ich das Auto meiner Eltern. Mein Papa stand draußen und wartete auf uns. Zügig gingen wir auf ihn zu und er kam uns entgegen. Als erstes umarmte er mich und meinte: »Es ist so schön, dich zu sehen.« Dann räusperte er sich. »Hi, ich bin Werner. Toll, dich endlich kennenzulernen.« Er umarmte sie direkt und Emilia strahlte über das ganze Gesicht. Dann verstaute er unsere Koffer im Kofferraum. Sie gab mir einen leichten Hieb in die Seite. »Wie herzlich ist dein Papa denn bitte? Jetzt weiß ich, von wem du das hast.« Dann stiegen wir ein. Wir fuhren nicht sehr lange nach Hause. Wir wohnten in einem Haus in der Hagemeisterstraße (2). Sie war unweit der Sundpromenade. Es war eine schöne Gegend und man brauchte nur ungefähr zehn Minuten in die Stadt zu Fuß. Vielleicht auch fünf mehr, je nachdem, wie schnell man ging. Die ganze Zeit über sah Emilia aus dem Fenster, sie war völlig fasziniert. Es interessierte sie, in welcher Stadt ich groß geworden war. »Ich fühle mich jetzt schon wohl«, stellte sie zufrieden fest und mein Papa lachte auf. Er hatte ein richtig ansteckendes Lachen, sodass wir alle lachen mussten.
Auch ich sah hinaus. Es war ein komisches Gefühl, wieder hier zu sein. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich es vermisst hatte. Hier war alles ruhiger. Die Luft war besser. Ich war direkt am Wasser. Mein Papa bog in unsere Straße ein und parkte das Auto unter dem Carport. »Wow«, entfuhr es Emilia. Ich sah sie fragend an. »Sieht schön aus.« Ich musste schmunzeln. Wenn das so weiter ging, würde sie später von der Toilette kommen und sagen: »Wow, eure Toilette sitzt sich echt bequem.« Bei dem Gedanken daran musste ich mir das Lachen verkneifen. Mein Vater schloss die Tür auf und der vertraute Geruch von Zuhause stieg mir in die Nase. Meine Mama kam mit ihrer Schürze um die Ecke. Sie hatte sie vor Jahren von mir zu Weihnachten bekommen. Unglaublich, dass sie die immer noch benutzte. In diesem Moment überkamen mich so viele Gefühle. Das überrumpelte mich völlig. Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten. Ich fing einfach an zu weinen.
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Remember me || gxg
RomanceAls Ella ihren Eltern ihre Freundin Emilia vorstellen möchte, ist ihre Welt noch völlig in Ordnung. Doch kaum ist sie zurück in der Heimatstadt, holen sie die Erinnerungen an ihre erste große Liebe wieder ein. Über drei Jahre lang hatte sie diesen O...