Hatten meine Gedanken mir einen Streich gespielt? Ich blinzelte. Die Sonne schien mir direkt in das Gesicht und brannte auf meiner Haut. »Wollen wir lieber nach Hause gehen?« Emilia machte sich wirklich Sorgen um mich und ich? Ich saß hier und konnte nur an das Lachen denken. Es hallte noch immer in meinem Kopf nach. Alles in mir zog sich zusammen. Ich konnte mich nicht dagegen wehren. Was, wenn sie es wirklich gewesen war? Wenn wir wieder aufeinander trafen nach all der Zeit? Konnte ich das ertragen? Würde sie mich überhaupt noch kennen oder war ich nur noch eine schwache Erinnerung für sie? Eine Schülerin, die sie irgendwann mal unterrichtet hatte? Mir machten diese Gedanken zu schaffen, denn ich wollte damals nicht nur ihre Schülerin sein. Ich wollte die Frau an ihrer Seite sein. Was hätte ich nur dafür gegeben, ihre Lippen küssen zu dürfen. Nur ein einziges Mal.
»Schatz?«, hakte sie nach und ich löste mich aus meiner Starre. »Nein«, gab ich als Antwort. »Ich möchte den Hugo genießen. Tut mir leid für meine Launen. Ich kann es mir auch nicht erklären.« Sie schenkte mir einen warmherzigen Blick, doch trotzdem stellte ich zum allerersten Mal unsere Beziehung in Frage. Es lag nicht an Emilia, dass ich so dachte. Nicht direkt. Sie war atemberaubend. Aber ich fragte mich, ob ich die ganze Sache mit Frau Rosenthal richtig verarbeitet hatte. Eigentlich hatte ich es nur verdrängt. Ich war vor meinen Gefühlen weggelaufen, aber es hatte geholfen. Immerhin konnte ich mein Herz wieder verschenken, aber wenn ich in diesem Moment ehrlich zu mir selbst war, war ich vollkommen verwirrt. War das fair? Hätte ich doch mit Emilia reden sollen? Ich wollte nicht zulassen, dass sie so präsent in meinem Kopf war. Ich musste etwas unternehmen. Und zwar schnell. Sonst würde mir diese ganze Sache nur noch über den Kopf wachsen.
Nach einer Weile entspannte sich mein Körper wieder. Ich trank meinen Hugo und der Alkohol sorgte für ein wohliges Gefühl in mir. »Weißt du eigentlich, dass ich jede Minute mit dir genieße? Ich kann manchmal noch immer nicht glauben, dass du an meiner Seite bist«, gab sie offen zu und lächelte mich an. Dabei leuchteten ihre Augen. So wie sie es immer taten, wenn sie Gefallen an einer Sache hatte. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, deshalb blieb ich still. Zum Glück klingelte mein Handy. Ich wagte einen Blick auf das Display und sah Emilia entschuldigend an. »Ja, Mama?«, nahm ich das Gespräch an. »Seid ihr noch in der Stadt unterwegs?«, wollte sie wissen. »Ja, sind wir. Wir sitzen gerade in der Sonne und trinken einen Hugo. Warum fragst du?« Sie erwiderte: »Super, könntet ihr vielleicht noch eine Butter und einmal Käse mitbringen aus dem Edeka?« Der Edeka befand sich in der Einkaufsstraße, wir mussten also ein Stück zurücklaufen. »Klar, wird erledigt«, antwortete ich und seufzte innerlich. Eigentlich hatte ich keine Lust, aber sie war schließlich meine Mama und ich konnte ihr diesen winzigen Wunsch nicht abschlagen. Dann verabschiedeten wir uns und legten auf.
»Wir müssen gleich noch einmal zurück zum Edeka gehen. Mama braucht noch Butter und Käse«, stöhnte ich. Ich hatte absolut keine Lust mehr auf Bewegung. Emilia schien es nicht zu stören. »Die kurze Strecke schaffen wir ja wohl auch noch«, lachte sie und beugte sich zu mir, um mich zu küssen. Ich erwiderte ihren Kuss. Er schmeckte leicht nach Alkohol und irgendwie gefiel mir das. Ihre Haut war ganz warm, als ich ihr mit meinen Fingern über die Wange fuhr. Ich schob ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr. Wie konnte ich meine Liebe zu ihr jemals anzweifeln oder in Frage stellen? Sie war mein Glück. Sie hatte alles, wonach ich mich sehnte. In diesem Moment kamen mir meine Gedanken mal wieder völlig absurd vor und ich konnte nicht fassen, wie ich mich davon kontrollieren ließ. Gedanken waren eben kleine und gemeine Biester. Man musste lernen, mit ihnen umzugehen.
»Hast du dir eigentlich mal Geschwister gewünscht? Oder fandest du es als Einzelkind gut?«, wollte Emilia wissen und sah mich erwartungsvoll an. Früher hatte ich mir immer eine kleine Schwester gewünscht. Oder einen großen Bruder. Ich fand die Vorstellung aus den Filmen immer toll, wie er mich beschützen würde. Ich lachte innerlich auf. Auch er hätte mich nicht vor meinen Gefühlen beschützen können. Das konnte niemand. Aber es war sowieso nie dazu gekommen. »Meine Mama hatte eine Risikoschwangerschaft mit mir. Sie hatten es sehr lange probiert, bis es irgendwann geklappt hat. Sie wollten ein zweites Risiko nicht eingehen und waren glücklich, dass ich gesund war. Sie haben mir echt die Welt zu Füßen gelegt.« Ich hatte eine tolle Kindheit. Mir hatte es an nichts gefehlt. Meine Eltern waren immer sehr fürsorglich gewesen, hatten mir aber trotzdem viele Freiheiten gelassen. Wenn ich irgendwann eigene Kinder haben sollte, dann wollte ich es auch so machen wie sie.
»Oh«, sagte sie und biss sich auf die Lippe. Ihr Gesicht errötete leicht. »Das wusste ich nicht.« Ich winkte ab. »Es ist doch alles gut. Sie sind glücklich, dass sie überhaupt ein Kind bekommen konnten. Und für mich war es auch in Ordnung. Auch wenn es manchmal natürlich schön wäre, wenn noch jemand da wäre. So wie bei dir. Das stelle ich mir toll vor. Gerade an Weihnachten.« Sie lachte. »Glaube mir, manchmal kann das auch sehr stressig sein und nervig. Wenn du auf deine kleineren Geschwister aufpassen musst, wenn deine Freunde feiern gehen, weil deine Mama spontan eine Spätschicht im Krankenhaus aufs Auge gedrückt bekommen hat. Aber im Nachhinein hat uns das wohl sehr zusammengeschweißt.« Emilia hatte noch zwei weitere Geschwister, die beide jünger als sie waren. Noch eine Schwester und einen Bruder. Sie waren Zwillinge. Ich hatte sie beide kennengelernt und sie waren wirklich süß und sahen aus wie eine kleine Version von Emilia. »Irgendwann möchte ich mindestens zwei Kinder. Meinetwegen gern auch mehr.« Sie zwinkerte mich an und ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Natürlich wollte ich auch Kinder, aber von der Planung war ich noch eine Weile entfernt. Es war ein merkwürdiges Gefühl, wenn ich mir vorstellte, dass irgendwann ein kleines Wesen »Mama« zu mir sagte. Merkwürdig, aber auch irgendwie schön. »Wir werden sehen«, erwiderte ich und sie musste schmunzeln.
Wir tranken aus und machten uns dann auf den Weg zum Edeka. Beim Aufstehen wurde mir etwas schwindelig, aber das lag dieses Mal ausnahmsweise wirklich an dem Wetter. Und an dem Alkohol vielleicht auch. Es war zwar nur ein Glas gewesen, aber in den letzten Wochen hatte ich keinen Alkohol getrunken, da machte er sich gleich schneller bemerkbar. Ich nahm Emilias Hand. Wir besorgten die Sachen. Als wir wieder herauskamen, sprang mir Hugendubel ins Auge. Der Laden befand sich leicht schräg gegenüber. Ich wusste nicht warum, aber ich wollte unbedingt den Laden betreten und »Narbenkind« kaufen. Es war der zweite Band meiner Reihe, die ich momentan las und der erste gefiel mir bisher sehr gut. »Können wir noch einmal kurz reingehen?«, fragte ich Emilia und schon als ich die Frage stellte, wusste ich, dass sie nicht verneinen konnte. Es war ihr eigentlich egal, was wir taten. Hauptsache wir waren zusammen. »Wenn du das möchtest, dann machen wir das«, erwiderte sie mit einem Lächeln auf den Lippen. So wie ich es vorausgesagt hatte. Also betraten wir den Laden.
Schon im Eingang wusste ich, dass etwas komisch war. Es lag eine Spannung in der Luft und ich konnte nicht beschreiben, woher sie kam. Ich wusste nur, dass mein ganzer Körper auf etwas reagierte, was für mich noch nicht sichtbar war. Ich bekam eine Gänsehaut. Ich nahm meine Mitmenschen nicht mehr wahr. Sah mich um. Nur eine Bewegung im Raum hatte meine volle Aufmerksamkeit. Aber warum? Warum war ich so fixiert auf die Frau, die an der Kasse stand und gerade bezahlte? Wie angewurzelt blieb ich stehen. Ich sah sie nur von hinten, aber trotzdem erinnerte sie mich an Frau Rosenthal. Die Figur, der Kleidungsstil – nur ihre Haare waren ein Stück länger. Aber war sie es wirklich? »Ella?«, stutzte Emilia und folgte meinem Blick, der an der Frau hängen blieb. Ich reagierte nicht. Ich konnte nicht. Mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Dann drehte die Frau sich um. Ich traute meinen Augen nicht. War sie es wirklich? Unsere Blicke trafen sich nach all dieser Zeit wieder und jede einzelne Zelle in meinem Inneren explodierte. Geschockt sah sie mich mit ihren grünen Augen an, aber dann formte sich ihr Mund zu einem leichten Lächeln und in mir drin gab es einen riesen Krach. Meine ganze innerliche Fassade, die ich mir so mühevoll aufgebaut hatte, brach auseinander. Es fühlte sich an, als wäre in mir eine Kunstgalerie. An jeder Wand hingen Bilder, die durch ein heftiges Beben alle von der Wand fielen, obwohl man sie zuvor ordentlich aufgehängt hatte. Man hörte nur noch das Glas splittern. Sie kam auf uns zu und in diesem Moment wurde mir klar, dass ich nur weggelaufen war. Vor ihr und vor meinen Gefühlen. Ich hatte mir selbst etwas vorgemacht.
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Remember me || gxg
RomanceAls Ella ihren Eltern ihre Freundin Emilia vorstellen möchte, ist ihre Welt noch völlig in Ordnung. Doch kaum ist sie zurück in der Heimatstadt, holen sie die Erinnerungen an ihre erste große Liebe wieder ein. Über drei Jahre lang hatte sie diesen O...