Kapitel 9

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In den nächsten Tagen zeigte ich Emilia noch einige Ecken von Stralsund. Die erste Woche in meiner Heimatstadt war fast um. Die ganze Zeit über hatte ich nur Frau Rosenthal im Kopf. Ich konnte mich nicht konzentrieren und wusste nicht, ob ich mich in die ganze Sache einfach nur hineinsteigerte. Immer wieder spielte sich die Begegnung in meinem Kopf ab. Ich konnte es nicht so hinnehmen. Aber ich musste. Ich konnte nicht durch Stralsund laufen und sie suchen. Und selbst, wenn ich sie finden würde - was sollte ich ihr sagen? Das war surreal. Ich musste mein Leben normal weiterleben. Aber so, wie ich mich momentan fühlte, war es nicht möglich. Ich fühlte mich innerlich zerrissen. Und als Emilia dann noch mit der Wohnungssuche um die Ecke kam, rastete ich komplett aus. Ich war unfair und sagte unpassende Dinge. Sie hatte diese Reaktion nicht verdient. Aber ich konnte nicht nach einer gemeinsamen Wohnung schauen. Nicht jetzt. Es überforderte mich. Ich stellte plötzlich alles in Frage. Meine Gefühle, mein Leben, mich selbst.

Da meine Eltern beide arbeiten waren, hatten wir das Haus für uns alleine. »Weißt du, ich bin es irgendwie leid, ständig mit dir zu diskutieren. Erst willst du es unbedingt, dann wieder nicht. Ich weiß nicht, was ich machen soll«, schrie sie wütend und ich wusste, dass tatsächlich ich die Schuld für die jetzige Situation trug. Sie war noch nie wirklich laut geworden. Ich wusste, wie sehr sie mich liebte. Warum behandelte ich sie nur so? »Und ganz ehrlich? Ich will dich gerade nicht sehen. Ich ertrage deine Nähe nicht.« Sie lief in mein Zimmer und ich ging hinterher. Doch sie hatte die Tür abgeschlossen. Ich klopfte. »Können wir noch einmal reden?«, fragte ich vorsichtig. »Ich mag jetzt nicht. Bitte akzeptiere das. Ich möchte alleine sein.«. Ich seufzte, aber musste es respektieren. Deshalb ging ich zurück nach unten. Aber ich konnte nicht blöd rumsitzen und darauf warten, dass sie aus dem Zimmer kam. Ich ging nach draußen und ging an der Sundpromenade etwas spazieren, um einen klaren Kopf zu bekommen. Ich setzte mich dort auf eine Bank und dachte nach.

Was war ich nur für ein Trottel? Ich hatte so ein Glück mit Emilia und setzte alles aufs Spiel. Wieso konnte nicht alles so sein wie vorher? Wie konnte sich innerhalb weniger Tage so viel ändern? Ich wollte nicht, dass die Kluft zwischen uns größer wurde, denn gerade fühlte es sich an, als wären wir kilometerweit voneinander entfernt. Ich wollte sie nicht verlieren. Ich war so in Gedanken vertieft, dass ich nicht mitbekam, dass mich jemand ansprach. Verdutzt sah ich auf und erkannte eine alte Klassenkameradin von mir. Wir hatten ab und an Kontakt, waren bei Facebook befreundet und folgten uns auf Instagram. Unsere Beziehung war also sehr oberflächlich, was mich aber nicht störte. »Ella, ich musste gerade wirklich zweimal gucken«, begrüßte sie mich lachend und zog mich in eine Umarmung. Mir war gerade nicht nach Gesellschaft, aber ich wollte nicht unhöflich sein. »Wie geht es dir? Was machst du so? Bist du wieder zurück in Stralsund?« Ich beantwortete ihre Fragen. »Und was machst du so?« Sie grinste. »Studieren war mir nichts. Ich wollte es praktischer haben, deshalb habe ich das Studium nach einem Semester geschmissen, bin dann erst einmal gereist und habe dann meine Ausbildung zur Optikerin angefangen. Gefällt mir richtig gut.« Wir quatschten noch über ein paar andere Dinge, dann musste sie weiter. Sie war verabredet, deshalb schlug ich den Heimweg ein. Ich musste noch einmal mit Emilia sprechen. Wir konnten es nicht offen im Raum stehen lassen.

Als ich das Haus betrat, erwartete Emilia mich schon. Ihr Anblick löste Unbehagen in mir aus. Es war nicht auf ihr Aussehen bezogen, sie sah toll aus, wenn man ihre rot geweinten Augen außen vor ließ. Aber ihre Aura hatte sich verändert und das gefällte mir nicht. Ich konnte es an ihrem Blick sehen. Sie hatte mir etwas zu sagen. In ihrem Blick lag etwas Vorwurfsvolles. Vielleicht auch etwas Verletztes. »Höre zu, es tut mir wirklich...«, fing ich an, aber sie unterbrach mich. »Ich habe das Gefühl, dass du mir etwas verschweigst, Ella.« Ihre Stimme war ganz ruhig. Ertappt hielt ich inne. Was meinte sie? »Ich weiß nicht, was du für ein Problem hast. Aber ich bin deine Freundin und ich erwarte eigentlich, dass du mit mir redest und ehrlich zu mir bist. Aber du bist total verschlossen und ich verzweifele langsam. Liebst du mich überhaupt noch? Seitdem wir hier sind, spüre ich davon nichts mehr«, sprudelte es aus ihrem Mund heraus und sie sah mich an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ich wollte sie nicht so sehen. »Natürlich liebe ich dich noch. Was denkst du denn?«, entfuhr es mir schnell. Aber entsprach das der Wahrheit? Bis vor einer Woche war ich mir noch sicher gewesen. Doch jetzt zweifelte ich und es brachte mich innerlich um. Aber ich wollte sie nicht aufgeben. Wahrscheinlich war es nur eine schwierige Phase. »Ich weiß nicht, was ich denken soll.«

Mir fehlten die Worte. »Bist du ehrlich zu mir?«, wollte sie wissen. Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. »Ja, klar.« Sie holte Luft und fragte: »Wenn du ehrlich zu mir bist, kannst du mir auch sagen, warum ein Bild deiner alten Lehrerin in deinem Buch liegt, oder?« Ich schluckte. Hatte sie in meinen Sachen gewühlt? Plötzlich wurde ich wütend und musste diese Wut rauslassen. »Sag mal, warum wühlst du in meinen Sachen?« Ich war richtig zornig und konnte mir das nicht erklären. Zwischen uns war sonst immer alles harmonisch. Es war eine ungewohnte Situation für uns beide. Noch nie hatten wir so gestritten. Aber ich spürte, dass sich etwas verändert hatte und wusste nicht, wie unsere Zukunft aussah. Was taten wir hier bloß? Taten wir uns beide noch gut?

Ihr Blick veränderte sich. Emilia fing an zu weinen und ich sah, dass ihre Hände zitterten. »Denkst du das wirklich von mir, Ella? Ernsthaft?« Scheiße, was hatte ich getan? »Nein, ich...«, fing ich an, aber sie fuhr unbeirrt fort: »Ich dachte, du kennst mich. Das dachte ich wirklich. Ich würde niemals in deinen Sachen wühlen und ehrlich gesagt verstehe ich dein Problem gerade sowieso nicht. Es war ein Buch im Bücherregal.« Sie sah mitgenommen aus. Ich biss mir auf die Lippe. Sie hatte recht. Das Buch hatte ich selbst dort liegen gelassen. An einer Stelle, die jederzeit für sie zugänglich war. Warum hatte ich dieses dämliche Foto auch ins Buch gepackt? Warum hatte ich es nicht einfach entsorgt? Regungslos stand Emilia mir gegenüber. Sie war völlig fertig.

»Emilia, es tut mir leid. Du hast natürlich nicht in meinen Sachen gewühlt. Ich wollte dich nicht so anfauchen.« Sie lachte bitter auf. »Weißt du, das höre ich gerade nicht zum ersten Mal von dir.« Wie sollte ich ihr beweisen, dass mir das zwischen uns wichtig war? Ich musste echt damit aufhören, meine Launen an ihr auszulassen. Und das ging nur, wenn ich nicht mehr in Stralsund war. Wenn Frau Rosenthal nicht mehr in meiner Nähe war und meine Gefühle verrückt spielen ließ. »Vielleicht wäre es besser, wenn wir in den nächsten Tagen wieder nach Berlin fahren.« Geschockt und fassungslos sah sie mich an. Alles in mir sträubte sich dagegen, aber es war besser für uns und unsere Beziehung. Ich wollte sie retten. Um jeden Preis. Deshalb war ich endlich ehrlich zu ihr. Jedenfalls fast. Ich sagte: »Ich war nicht ganz ehrlich zu dir bzw. habe ich dir nicht alles gesagt.« Sie horchte auf und sah mich interessiert an.

»Ich war früher mal in Frau Rosenthal verliebt. Ich habe dir nur nichts davon erzählt, weil es mir irgendwie peinlich war. Sie war meine Lehrerin. Und das Foto hatte ich damals von ihr und nun habe ich es zufällig gefunden und ins Buch gelegt. Ich wusste nicht mal mehr, dass es das Bild überhaupt noch gibt.« Jetzt war es raus. Dass sie mich noch immer oder schon wieder verrückt machte, erwähnte ich nicht. Emilia sah etwas entspannter aus. »Falls es dich beruhigt: Ich war früher auch in meine Lehrerin verliebt. Ich hatte sie in Biologie.« Das hatte sie mir nie erzählt. Sie nahm versöhnlich meine Hand. »Ich mag nicht mehr mit dir streiten. Wir bleiben noch einige Tage. Ich möchte unbedingt noch zum Strand fahren. Danach fahren wir dann zurück nach Berlin. Der Alltag tut uns irgendwie besser.« Ich nickte mit gemischten Gefühlen. Wenn wir erst einmal in Berlin waren, dann würde alles wieder geregelter laufen. Ich war schon einmal über Frau Rosenthal hinweggekommen, dann war das doch jetzt ein Klacks. »Aber bevor wir fahren«, meinte sie und steuerte das Buch an. »Werden wir das entsorgen. Das brauchst du ja nicht mehr.« Sie nahm das Bild heraus und warf es in den Papierkorb. Alles in mir protestierte und schrie. Mein Herz verkrampfte, aber ich sagte nur: »Ja, du hast recht. Das ist wohl überflüssig.«

Remember me || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt