Kapitel 11

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Ich musste blinzeln. Noch immer lag ihre Hand auf meiner Schulter. Langsam zog sie sie zurück. »Geht es dir gut?«, wollte sie mitfühlend wissen. Mein Herz fing an zu rasen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. »Ich...«, fing ich an zu sprechen, aber wusste nicht weiter. Wieder legte sie ihre Hand auf meine Schulter und drehte mich einmal um. Uns trennten nur wenige Zentimeter voneinander. Das Atmen fiel mir schwerer. Ich konnte in ihrer Nähe nicht denken. Wir sahen uns nur die Augen. »Was beschäftigt dich?« Was sollte ich ihr sagen? Dass sie die ganze Zeit in meinen Gedanken war? Dass ich nicht mehr wusste, was ich fühlte? Dass sie alles durcheinander brachte? Aus meinem Mund sprudelte stattdessen heraus: »Warum waren Sie letztens so schnell weg?« Ertappt sah sie mich an. »Ich hatte noch einen Termin«, meinte sie und ich merkte, dass sie mich anlog. »Das glaube ich Ihnen nicht.« Sie seufzte. »Ella, was soll ich dir sagen? Ich weiß es nicht.« Ihr Blick veränderte sich. Er hatte einen verletzlichen Ausdruck.

»Wir werden eher nach Berlin fahren. Schon in den nächsten Tagen«, warf ich in den Raum. Ich wusste nicht, warum ich ihr das mitteilte. Wahrscheinlich war es ihr sowieso egal. Erstaunt sah sie mich an. »Warum?«, wollte sie wissen und ihre Stimme klang dabei etwas schrill. »Mich hält hier doch nichts. Warum also nicht?«, stellte ich als Gegenfrage und sie wurde rot. »Weil ich dich gern noch gesehen hätte.« Nur dieser eine Satz von ihr warf mich komplett aus der Bahn. Sie wollte mich noch sehen? »Warum?«, flüsterte ich nun. Wieder seufzte sie. »Warum musst du immer so viele Fragen stellen?« Sie lachte nervös auf. »Erzähle mir lieber, was los ist.« Warum lenkte sie schon wieder ab? Warum konnte sie meine Frage nicht einfach beantworten?

»Seitdem wir in Stralsund sind, streiten Emilia und ich viel. So etwas hatten wir vorher noch nie«, gab ich ehrlich zu und sie sah mich aufmerksam an. »Ich habe jetzt Ihre Frage beantwortet, jetzt sind Sie dran.« Sie überlegte. Frau Rosenthal sah heute wieder toll aus. Ich konnte meine Augen nicht von ihr abwenden. »Ich weiß nicht.« Wow. Das war wohl ihre Lieblingsantwort. Sie war doch sonst nicht auf den Mund gefallen. Ich betrachtete sie. Sie biss auf ihrer Unterlippe umher. Das hatte sie früher schon gern getan, wenn sie sich konzentrierte. Und jedes Mal hatte ich mir vorgestellt, wie ihr Kuss schmecken würde. Auch in diesem Moment dachte ich wieder daran. Sie hatte meinen Blick bemerkt und schmunzelte nun. Ich wandte ihn ab und merkte, wie mein Gesicht heiß wurde. Wahrscheinlich war ich rot wie eine Tomate. »Das hast du früher schon gemacht«, bemerkte sie mit einem Grinsen und ich blickte sie geschockt an. »Wie bitte?«, stieß ich aus. »Denkst du, ich habe deine Blicke nie gemerkt?« Sie hatte es gemerkt? Ich schämte mich. Wie peinlich war das bitte?

»Das ist über drei Jahre her«, verteidigte ich mich. »Du siehst mich noch immer so an, Ella.« Ihr Blick war wachsam. Sie machte mich verrückt. Wusste sie damals tatsächlich von meinen Gefühlen? Ich konnte es nicht glauben. »Ich war damals noch etwas jünger und ja, ich gebe es zu. Ich fand Sie wirklich toll.« Leicht nickte sie und dachte nach. »Und heute?« Mein Herz rutschte mir in die Hose. »Heute habe ich Emilia.« Sie rollte leicht mit den Augen. »Und anscheinend läuft es mit ihr nicht so besonders«, stellte sie fest. Was sollte das? Was waren das für Fragen? »Ich verstehe nicht, worauf dieses Gespräch hinauslaufen soll.« Ich wusste es wirklich nicht. Sie räusperte sich und kam ein Stück näher. So nah, dass ich ihr Parfüm riechen konnte. Es vernebelte mir die Sinne.

»Ich weiß es auch nicht so genau, wenn ich ehrlich bin«, hauchte sie mir zu und ihr Atem roch nach Minze vermischt mit Wein. Ihre Stimme war ganz sanft geworden. Meine Knie wurden weich. »Oh, Gott«, murmelte ich benommen. Sie lächelte und mein Herz ging auf. Sie strich mir mit ihren Fingern eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich bin übrigens Mara.« Ich wiederholte leise und bedächtig: »Mara.« Ich liebte diesen Namen. Er klang wie Musik in meinen Ohren. Erneut lächelte sie. »Du bist schon lange nicht mehr meine Schülerin. Deshalb wüsste ich nicht, warum du mich weiter siezen solltest.« Unterschwellig schwang eine Aussage mit, die ich nicht ganz verstand. Sie hatte diese Satz zweideutig formuliert, aber ich konnte mich nicht darauf konzentrieren. Ich konnte nicht antworten, deshalb nickte ich nur.

Ich wollte jetzt nicht gehen. Mein Herz schrie förmlich nach ihr, aber Emilia wartete schon viel zu lange. Sie würde wahrscheinlich gleich hier auftauchen und mich suchen. »Ich muss jetzt leider gehen«, flüsterte ich, doch bewegte mich nicht. Ihr Blick war flehend, als sie meinte: »Nein, bitte nicht.« Warum sagte sie so etwas? Wollte sie wirklich, dass ich blieb? Sie legte ihre Hände um mein Gesicht. Mein Atem ging schneller und mein Herz drohte aus der Brust zu springen. »Was wird das?« Meine Stimme war heiser und meine Kehle staubtrocken. Dann zog Mara meinen Kopf ein Stück näher. Zwischen unseren Lippen passte höchstens noch eine Hand. Sie würden sich gleich berühren. Ich war im Zwiespalt. Ich wollte sie küssen. Sehr sogar. Aber es ging nicht. Emilia war in meinem Kopf. Es war falsch und verkehrt. Kurz bevor sich unsere Lippen berührten, löste ich mich von ihr. »Es geht nicht«, presste ich hervor. Dabei sehnte ich mich so sehr danach. Aber ich musste treu bleiben. Es war nicht fair. Ich wollte mit einem Kuss nicht alles kaputt machen, nur weil ich mich kurz nicht unter Kontrolle hatte. Sie nickte mit einem traurigen Blick und ich schob sie zur Seite und stürmte aus der Toilette.

Als ich zurück am Tisch war, musterte mich Emilia. »Wo warst du denn so lange?«, wollte sie wissen. »Ich habe irgendwie heftige Bauchschmerzen.« Ich hoffte, sie glaubte mir meine kleine Lüge. »Du siehst auch wirklich nicht gut aus«, antwortete sie besorgt. »Bist total blass.« Woran das nur lag. »Lass uns bezahlen und dann nach Hause gehen. Ein bisschen frische Luft wird mir gut tun.« Wir zahlten die Rechnung und gingen an der Sundpromenade entlang zurück. Mir ging die Situation nicht aus dem Kopf. Fast hätten wir uns geküsst. Mara und ich. Davon hatte ich früher immer geträumt, doch jetzt war es vorbei. Sie war meine erste Liebe gewesen. Mehr nicht. Ich hatte mit ihr abgeschlossen. »Ich möchte, dass wir morgen früh schon zurück nach Berlin fahren.« Erstaunt sah sie mich an. »Warum?« Ich wollte ihr nichts erklären. »Darum. Ich möchte einfach wieder zurück.« Sie nickte. »In Ordnung.«

Meine Eltern waren noch wach, als wir zu Hause ankamen. Ich erzählte ihnen, dass wir morgen wieder fahren würden. Nach nur einer knappen Woche. Sie waren nicht begeistert und konnten es nicht verstehen. Ich konnte sie verstehen, sie hatten sich so auf meinen Besuch gefreut. »Es tut mir leid«, sagte ich und mein Herz brach, als ich Mamas Blick sah. Sie war enttäuscht, nahm ich an. »Das muss dir nicht leid tun. Es ist sehr schade, aber wir können dich ja nicht fesseln.« Es war mir alles über den Kopf gestiegen. Ich konnte das so nicht länger. Ich wollte entspannt in den Job starten und nicht so, wie ich mich momentan fühlte. Wir gingen nach oben und packten die Sachen.

Am nächsten Morgen saßen wir in der Bahn nach Berlin. Es fühlte sich an, als würde ich vor meinen Gefühlen davonlaufen. Aber es war die beste Entscheidung. Sonst würde ich alles kaputt machen. Und das wollte ich nicht. Ich liebte Emilia und ich wäre blöd, wenn ich nun alles riskierte. Ich sah aus dem Fenster und hielt die Tränen zurück. Ich musste standhaft bleiben und durfte meine Gefühle einfach nicht zulassen. Es ging nicht. Meine Gedanken kreisten nur um diesen Fast-Kuss mit Mara. Das Schlimmste an der Sache war, dass er von ihr ausgegangen war. Mir fiel auch wieder ein, dass ihr Bild noch unter der Matratze lag. Aber das war egal. Vorerst würde ich nicht zurück nach Hause fahren. Dann setzte sich die Bahn in Bewegung und kurze Zeit später verließen wir Stralsund. Und erst da realisierte ich, dass sie für mich nicht mehr nur Frau Rosenthal war, sondern auch Mara.

Remember me || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt