Kapitel 6

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Ich verstand mich nicht. Ich wollte diesem Bild nicht so viel Bedeutung schenken, aber wie konnte man Emotionen kontrollieren? Wie konnte ich das Herzrasen beeinflussen, das ich hatte, wenn ich das Bild ansah? War das ein fader Beigeschmack der alten Gefühle? So musste es sein. Wahrscheinlich empfand ich es nur deshalb so krass, weil ich sie noch nie mit »normalen« Augen gesehen hatte. Von der ersten Minute an gefiel sie mir damals. Aber die Zeit war vorbei. Unschlüssig, was ich tun sollte, blieb ich mit dem Bild in der Hand einfach stehen. Es war doch nur ein Bild. Ein verdammtes Bild. Und vielleicht war es normal, dass ich mich so fühlte, denn sie war immerhin die Frau, die mir gezeigt hatte, was Liebe war. Auch wenn es einseitige Liebe war. Ich legte das Bild zurück. Ich wollte nicht mehr an sie denken, sondern zu Emilia in die Dusche steigen. Die Gedanken an meine alte Lehrerin schob ich zur Seite.

Ich schlich mich ins Bad und entkleidete mich. »Da bist du ja endlich«, schimpfte Emilia mit einem Grinsen im Gesicht und zog mich in die Dusche. »Ich habe dich schon vermisst«, hauchte sie mir zu. Ich hatte ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen. Als wäre ich ihr fremdgegangen, aber das war völliger Unsinn. Unsere Lippen fanden zueinander. Sie hatte das Wasser abgestellt, aber es tropfte von ihren nassen Haaren. Ich nahm ihr Gesicht in meine Hände und fast so, als müsste ich mir etwas beweisen, sagte ich: »Du bist alles, was ich will.« Sie schlang ihre Arme um meinen Nacken und zog meinen Körper dichter zu ihrem. Ich spürte ihre nackte und nasse Haut und alles fühlte sich plötzlich an wie immer. Sie zog sanfte Kreise über meinen Rücken, aber mir war nicht nach sanft. Ich wollte mehr.

Ich fing an, ihre Brüste zu kneten und sie stöhnte überrascht auf. Dann drückte ich sie an die kalte Wand und sie erschauderte für einen Moment. Zwischen den Küssen murmelte sie: »Na hier will es ja jemand wissen.« Ich schob ihre Beine mit meiner Hand auseinander und drang in sie ein. Sie krallte sich fest. Man sollte diese Position nicht unterschätzen. »Lasse uns lieber ins Bett gehen«, schlug sie schwer atmend vor, aber ich schüttelte den Kopf. So viel Zeit war nicht mehr. Meine Handbewegungen wurden immer schneller, bis ihr gesamter Körper einige Sekunden später vibrierte. Dieses Gefühl übertrug sich auf mich. Dann war alles vorbei. Wir blieben regungslos in der Dusche stehen und sie küsste, noch immer unregelmäßig atmend, meinen Hals. »Wow, das kam unerwartet.« Zufrieden lächelte sie, dann wuschen wir uns und stiegen aus der Dusche.

Am frühen Nachmittag starteten wir und machten uns auf den Weg in die Stadt. Wir schlugen den Weg zur Sundpromenade ein. Als wir diese erreicht hatten, gingen wir nach rechts. Es war ein herrlicher Sommertag. Die Boote waren auf dem Sund unterwegs. Emilia ließ ihre Hand in meine gleiten und es fühlte sich völlig selbstverständlich an. Dann schlenderten wir den Weg entlang. »Schau mal, das hier ist meine alte Schule«, erklärte ich und zeigte nach rechts. Wir hatten fast den Rand der Altstadt erreicht. Sie sah sich wie immer interessiert um. Es war ein dreigeschossiger Backsteinbau und seitlich des Gymnasiums (6) war eine große Wiese, vor der wir nun standen. Überall hatten die Menschen Decken ausgebreitet und genossen die Mittagssonne. Dadurch, dass wir direkt am Wasser waren, kam wenigstens eine Brise Luft vorbei. »Hier haben meine Freundinnen und ich auch immer in den Pausen gesessen, das war schön.« Fast direkt neben dem Gebäude standen mehrere weiße Bänke. Manchmal hatte Frau Rosenthal dort gesessen in der Pause und ihren Apfel gegessen. Verstohlen hatte ich immer zu ihr gesehen und mich natürlich mit dem Rücken zum Wasser gesetzt, damit ich auf sie einen guten Blick hatte. Ich seufzte innerlich. Schon wieder diese Frau in meinem Kopf. Stumm schrie ich mich an: »Schmeiße sie endlich aus deinen Gedanken raus!«

»Das ist total cool«, staunte sie. »Das klingt echt schön.« Ja, das war es gewesen. Wir gingen weiter. Die ersten Restaurants tauchten auf und wir bogen in die Fährstraße ab. An der Ecke befand sich die älteste Hafenkneipe Stralsunds und sogar eine der ältesten Hafenkneipen Europas. Wir schlenderten bis zum Ende der Straße und bogen links ab, dann standen wir auf dem Alten Markt. Hier war buntes Treiben. Er war so etwas wie der zentralste Punkt hier in Stralsund. Ringsherum um das Rathaus hatten sich Restaurants und Cafés angesiedelt. Die ganzen Straßen in der Altstadt bestanden aus Holpersteinen. So auch der Markt. Nicht ganz in der Mitte des Marktes hatte man eine Wasserfontäne eingebaut. Zu jeder vollen Stunde spritzte dort für einige Minuten Wasser in die Luft und meistens liefen die Kinder dort umher und freuten sich darüber. So war es auch an diesem Tag. Wir kamen gerade, als das Spiel einsetzte. Die Kinder kreischten und die Eltern saßen entweder auf den Bänken, die dort neben standen oder in den Cafés oder Restaurants.

Wir gingen durch das Rathaus durch. Hier war es etwas kühler. Dort befanden sich einige kleine Läden. Wie das Café »Hühnergott«. Den Namen fand ich äußerst sympathisch. Außerdem war hier auch das Standesamt. »Sollten wir irgendwann heiraten, dann heiraten wir hier«, meinte sie euphorisch. Heiraten? Sie wollte mich heiraten? Darüber hatten wir noch nie gesprochen. Ich hatte ehrlich gesagt auch noch nicht wirklich daran gedacht. »Ella, entspanne dich. Ich will dich nicht gleich heute heiraten«, lachte sie und sah mich an. »Puh, Glück gehabt«, versuchte ich, mit etwas Humor aus der Sache zu entkommen. Ich wollte jetzt nicht darüber sprechen. Wir gingen weiter. Dann erreichten wir unsere kleine Einkaufsstraße und gingen in einige Läden hinein. Emilia kaufte sich eine kurze Hose, ich hatte nichts gefunden. Bei Manolis kauften wir uns Eis. Jeder hatte sich zwei Kugeln ausgesucht. Ich hatte mich für Wassermelone und Schlumpfeis entschieden. Schon als Kind mochte ich dieses blaue Eis. Emilia nahm Joghurt und After Eight.

»Ich würde sagen, wir gehen jetzt einmal zum Hafen hinunter. Dann zeige ich dir noch das Ozeaneum und die Gorch Fock I. Das Ozeaneum müssen wir auch noch einmal besuchen. Vielleicht an einem etwas kühleren Tag, wenn es ihn dann gibt.« Sie antwortete: »Ok, ich lasse mich führen. Du kennst dich aus.« Wir gingen die Heilgeiststraße hinunter und bogen am Ende der Straße links ab. Wir überquerten den Fährkanal über eine kleine Brücke und dann standen wir vor dem Ozeaneum (7). Einheimische bezeichneten das Gebäude auch gern als Klorolle. Ich erzählte Emilia davon und sie brach in schallendes Gelächter aus. »Ernsthaft?«, japste sie. Sie konnte sich gar nicht mehr beruhigen und ich musste automatisch auch loslachen. Das Ozeaneum war ein Museum, welches sich mit dem Meer beschäftigte. Es gab viele verschiedene Aquarien mit den verschiedenen Wasser- und Lebenswelten aus Ostsee, Nordsee und Nordatlantik.

Wir gingen weiter. Dann standen wir direkt am Hafen und sahen auf das Wasser. Wir gingen am Hafenbecken entlang und kamen bei der Gorch Fock I (8) an. Es war ein Segelschiff, welches im Stralsunder Hafen lag. Man konnte das Schiff besichtigen, dort heiraten und auch feiern. Es war sehr beliebt. »Wenn du Lust hast, dann gehen wir jetzt noch einmal zum Alten Markt hoch und trinken einen Hugo, der schmeckt da richtig lecker.« Begeistert nickte sie. »Aber zuerst schießen wir ein Foto vor dem Schiff.« Als wir das erledigt hatten, gingen wir wieder zurück. Vor dem Restaurant »Goldener Löwe« standen sehr viele Tische, die fast alle belegt waren. Wir fanden ein gutes Plätzchen und setzten uns. Sofort kam auch der Kellner und wir bestellten unsere Getränke. Entspannt lehnte ich mich zurück und schloss die Augen. Die Sonne schien mir ins Gesicht und ich spürte, wie Emilia ihre Hand in meine schob. Ich musste lächeln. Ich freute mich auf den Hugo (9), denn ich hatte ihn schon ewig nicht mehr getrunken. Hoffentlich war er immer noch so gut wie damals. Der Kellner brachte uns die Getränke und stellte sie auf unserem Tisch ab, der etwas wackelig war. Meine Augen hielt ich weiterhin geschlossen.

Plötzlich hörte ich ein Lachen. Dieses Lachen würde ich unter 1000000 Lachen erkennen. Ich riss die Augen auf und Emilia sah mich irritiert an. Etwas panisch sah ich mich um. Nein, ich musste mich verhört haben. Das konnte nicht sein, oder? Ich sah mich noch einmal um, aber konnte die Quelle nirgendwo entdecken. Hier waren zu viele Menschen. Mein Herz fing an zu klopfen. Ich atmete schwer. »Ist alles in Ordnung?«, fragte Emilia mich besorgt und legte liebevoll ihre Hand auf meine, denn ich hatte sie vor Schreck vor einigen Sekunden weggezogen. »Alles gut, es ist wahrscheinlich einfach nur zu warm in der Sonne. Du weißt doch, wie empfindlich ich bin.« Ich fühlte mich schlecht, dass ich Ausreden suchte, aber ich konnte ihr doch wohl schlecht die Wahrheit sagen. Ich konnte ihr nicht sagen, dass ich gerade das Lachen meiner ersten Liebe gehört hatte und mich das völlig aus der Bahn warf und mein Herz zum Rasen brachte.

Remember me || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt