Kapitel 16

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Langsam fuhr sie an und wir sprachen zuerst kein Wort. Die Aufregung hatte sich in meinem gesamten Körper breit gemacht und verstohlen sah ich sie von der Seite an. Plötzlich drehte sie ihren Kopf leicht in meine Richtung und schmunzelte. Schnell sah ich wieder nach vorn. Mein Herz sprang wild in meiner Brust umher. Ich nahm ihren Geruch deutlich wahr. Es war, als umhüllte er mich. »Wo fahren wir hin?«, fragte ich und meine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Ich bemerkte, dass sie mit den Schultern zuckte. Außerdem bemerkte ich, dass sie ihre Hände um das Lenkrad krallte. Ihre Knochen wurden schon ganz weiß. So sehr krallte sie sich fest. Ihren Blick hatte sie auf die Straße gerichtet. Sie fuhr am Bahnhof vorbei und bog irgendwann links ab. Ich nahm das alles nur am Rande wahr. Ich war zu sehr auf Mara fixiert. Wir waren am Stadtrand angelangt. Sie bog in das Gewerbegebiet ab und folgte der Straße. Dann hielt sie auf dem riesigen Globus-Parkplatz (11). Wir hatten ernsthaft vor einem Baumarkt geparkt. Ich zog die Augenbrauen nach oben. »Warum sind wir ausgerechnet hier?« Sie schnallte sich ab und drehte sich in meine Richtung. »Weil wir hier ungestört reden können«, erklärte sie und Mara hatte recht. Niemand war zu sehen. Wir waren ganz alleine.

Ich schnallte mich auch ab. Der Gurt störte nur beim Sitzen. »Worüber willst du mit mir reden?«, brachte ich hervor. Sie sah mich mit einem »das-weißt-du-doch-ganz-genau« Blick an. »Über das, was in der Kron-Lastadie fast passiert wäre. Warum bist du zurück?« Draußen war es bereits etwas dunkel, die Sonne ging langsam unter. Ich atmete durch. Musste meine Gedanken sortieren. Ich wollte doch mit ihr sprechen und jetzt bekam ich den Mund nicht auf. Das war so typisch. Ich war total nervös und dass sie mich abwartend ansah, machte es nicht besser. »Ich wollte mit dir reden. Aber es war eine dumme Idee. Wäre ich doch nur in Berlin geblieben.« Ich spürte ihren intensiven Blick, traute mich aber nicht, sie anzusehen. Obwohl ich genau das wollte. In ihr schönes Gesicht sehen, ihre Lippen küssen, den Duft ihrer Haut einatmen. Nur der Gedanke daran bescherte mir eine Gänsehaut. »Wo ist denn deine Freundin?«, fragte sie und ich sah sie nun doch an.

»In Berlin. Ich wollte nicht, dass sie mich begleitet.« Überrascht hoben sich ihre Augenbrauen. »Oh.« Mehr sagte sie nicht, also sprach ich weiter: »Ich konnte diese Situation nicht vergessen. Es ist nichts passiert zwischen uns. Aber ich musste immer wieder daran denken.« Sie seufzte. »Es war ein Fehler von mir, Ella. Ich hätte es niemals so weit kommen lassen dürfen. Ich habe nicht nachgedacht und vielleicht lag es auch etwas am Alkohol.« Ich nickte, obwohl ich mir eine andere Antwort gewünscht hätte. Sie sah es als Fehler. Natürlich sah sie es so. »Obwohl sie von diesem Fast-Kuss nichts weiß, hatte ich heftigen Streit mit Emilia wegen der ganzen Sache«, redete ich weiter und ihr Blick war aufmerksam. »Zwischen ihr und mir ist es jetzt wohl vorbei.« Aber fand ich das wirklich so schlimm? Oder wollte ich sie zurück? »Vielleicht bekommt ihr das wieder hin«, versuchte sie, mich aufzuheitern. »Ja, vielleicht. Ich habe ihr ganz schön weh getan. Sie weiß, dass ich wegen dir hier bin. Sie hat mir ein Ultimatum gesetzt: Wenn ich nach Stralsund fahre, ist es vorbei zwischen uns. Es war mir in diesem Moment total egal. Ich war egoistisch und habe nur an mich gedacht.« Sie fragte vorsichtig nach: »Und jetzt?« Ich zuckte mit den Schultern. »Jetzt bin ich hier und fühle so viel, doch gleichzeitig auch eine Leere in mir.«

Noch immer war es ein komisches Gefühl, sie mit ihrem Vornamen anzusprechen. Jahrelang war sie Frau Rosenthal gewesen und nur in meinen Träumen hatte ich sie Mara genannt. Und nun war es die Wirklichkeit. Kein Traum mehr. Einen Moment sagte niemand ein Wort. »Ich wollte dich damit nicht so durcheinander bringen«, entschuldigte sie sich und brach das Schweigen. Leise lachte ich auf. »Das hättest du dir vor vielen Jahren überlegen sollen«, erwiderte ich und verdutzt sah sie mich an. »Wie meinst du das?« Ich winkte ab. »Egal.« Sie hakte nach: »Nein, nicht egal. Sage mir bitte, was du damit meinst.« Ich fuhr mir mit der rechten Hand durch die Haare. »Du hast mir schon damals in der Schule den Kopf verdreht. Hast du das denn nie mitbekommen?« Meine Stimme war leise geworden. Hatte sie mich überhaupt verstanden? Sie sagte nichts, starrte mich nur an. War es richtig gewesen, ihr davon zu erzählen? Oder hatte ich zu viel verraten?

Dann antwortete sie: »Vielleicht. Ich dachte immer, es wäre Einbildung. Dass sich unsere Blicke so oft gekreuzt haben und wir doch des Öfteren nach der Stunde miteinander gesprochen haben.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich war in dich verliebt. Seit der ersten Sekunde an hast du mir den Kopf verdreht. Ich bin gern in die Schule gekommen. Wegen dir. Nur wegen dir. Die ganze Zeit über hatte ich Schmetterlinge im Bauch. Das war schon verrückt.« Wo kam plötzlich diese schonungslose Ehrlichkeit her? Vielleicht waren das die Dinge, die ich ihr bisher nie sagen konnte. Aber jetzt musste es einfach mal ausgesprochen werden. »Warum bist du dann nach Berlin gegangen?« Was war das für eine Frage? War das nicht offensichtlich? »Ich konnte nicht mehr hier leben. Alles hier erinnerte mich an dich. Und ich wusste, dass es zwischen uns aussichtslos war und wollte mir damit einen Gefallen tun. Es hatte geholfen, alles war gut. Meistens jedenfalls.« Sie dachte nach.

»Dann haben wir dich zufällig im Hugendubel getroffen.« Sie fragte: »Und dann?« Aus mir sprudelte es heraus: »Scheiße, dann hast du mich mit deinem Lächeln wieder umgehauen!« Kurz huschte ein leichtes Lächeln über ihr Gesicht, aber dann war es verschwunden. Sie sah wieder ernst aus. »Ich habe versucht, dich aus dem Kopf zu bekommen. Aber plötzlich störte mich alles an Emilia und wir haben uns nur noch gestritten. Automatisch habe ich euch unbewusst miteinander verglichen. Ich wusste nicht mehr, was richtig war und was ich fühlen sollte. Das mit dir, das habe ich anscheinend nie ganz verarbeiten können. Und dann kam es zu diesem Fast-Kuss und das brachte mich nur noch mehr durcheinander. Wir sind zurück nach Berlin gefahren. Ich dachte, wenn ich meinen Alltag zurückhabe, dann läuft es wieder von alleine weiter. Aber ehrlich gesagt: Ich musste die ganze Zeit an dich denken. Alles wurde nur schlimmer.« Mit einem nervösen Lachen ergänzte ich: »Fuck, das hört sich gerade echt nach einer Liebeserklärung an.« Anscheinend hatte es Mara die Sprache verschlagen. Sie saß einfach nur da und starrte auf ihre Hände. »Als du vorhin mit dem Auto vorgefahren bist, war ich plötzlich wieder einige Jahre jünger. Ich habe damals oft nach deinem Auto Ausschau gehalten. Nach deinem Kennzeichen. Ich hatte immer davon geträumt, wie es wäre, wenn du mich damit abholst. Und genau das hast du vorhin getan.« Es war alles immer noch unfassbar für mich.

Mit brüchiger Stimme meinte sie: »Du weißt, dass ich Max habe. Wir sind seit fast zwei Jahren ein Paar.« Ich spürte, wie er wuchs. Der Kloß in meinem Hals. »Ich weiß.« Mehr brachte ich nicht hervor. Mein Herz war schwer. Natürlich wusste ich das. »Es tut mir leid, ich wollte dich damit nicht so überfallen. Das war blöd von mir.« Sie presste ihre Lippen aufeinander. »Nein, alles gut. Es ist schön, dass du so ehrlich warst.« Gab es noch mehr zu sagen? »Ich werde wieder zurück nach Berlin fahren und wir vergessen die ganze Sache einfach.« Es fiel mir nicht leicht, das zu sagen. Ganz und gar nicht. »Und dann? Wird es dir dann besser gehen?« Ihre Stimme hatte sich verändert. Wir sahen uns tief in die Augen. Noch immer klopfte mein Herz. Es konnte sich in ihrer Nähe gar nicht beruhigen. »Das weiß ich nicht. Ich schätze nicht. Aber was soll ich machen?« Sie wandte den Blick ab. »Es tut mir leid, Ella. Hätte ich das alles gewusst.« Woher sollte sie das schon wissen?

»Ich werde darüber hinwegkommen. Irgendwie.« Sie wollte gerade etwas sagen, doch mein Handy vibrierte. Ich wollte das Gespräch jetzt nicht annehmen, doch sie sagte: »Ich glaube, da versucht dich jemand zu erreichen.« Wer wollte denn jetzt schon wieder etwas? Ich nahm das Handy in die Hand. Emilias Name leuchtete auf. Ich schaltete es auf stumm und steckte es zurück in die Tasche. Neugierig sah sie mich an. »Das war meine Freundin. Oder eher Ex-Freundin. Ich denke nicht, dass wir das wieder gerettet bekommen. Und ich weiß auch nicht, ob ich das wieder will. Aber egal. Kannst du mich bitte einfach nach Hause fahren? Ich bin erschöpft.« Sie legte ihre Hand vorsichtig auf meine. »Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist«, murmelte ich, doch sie beugte sich in meine Richtung. Wieder nahm sie meinen Kopf in ihre Hände und ich verstand gar nichts mehr. Was sollte das? »Ach, halte den Mund, Ella«, raunte sie mit entschlossener Miene zurück und unsere Lippen näherten sich. Mein Puls schoss in die Höhe. Was taten wir hier? Ich wollte nicht mehr nachdenken. Die Konsequenzen waren mir in diesem Moment egal. Ich hatte unbändiges Verlangen nach ihr und wollte sie endlich küssen. Langsam zog sie meinen Kopf etwas näher. Ich spürte ihren heißen Atem in meinem Gesicht. Wenige Zentimeter noch, dann waren unsere Lippen vereint. Kurz bevor sie sich berührten, klopfte es laut am Fenster und wir fuhren ertappt auseinander.

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